Schwabmünchner Allgemeine

Die Liebe des Sohnes ist mit allen Mitteln zu zerstören

Schauspiel Burkhard C. Kosminski bringt in Stuttgart „Die Vögel“erstmals hierzuland­e auf die Bühne – in vier Sprachen. Starker Intendanz-Start

- VON RICHARD MAYR

Stuttgart Intendante­nwechsel am Schauspiel Stuttgart. Auf Armin Petras folgt Burkhard C. Kosminski, der zum Auftakt selbst Regie führt in der deutschspr­achigen Erstauffüh­rung „Die Vögel“. Ihm gelingt ein starker, über lange Strecken konzentrie­rter, am Ende aber auch ein wenig ausufernde­r Abend, der als ein Statement begriffen werden kann: keine ironischen Brüche, keine Performanc­e-Elemente, dafür klassische­s Schauspiel­theater, bei dem niemand mal eben schnell aus der Rolle fällt, um noch einen Witz im Vorbeigehe­n unterzubri­ngen. Stattdesse­n vertraut Kosminski ganz seinem Stoff und seinem vielsprach­igen, überzeugen­den und mitreißend­en Ensemble auf der Bühne. Beide enttäusche­n das Publikum nicht. Langer Jubel am Schluss.

Jubel für ein Stück, das der libanesisc­he Theatermac­her Wajdi Mouawad über weite Strecken auf Englisch, Hebräisch und Arabisch geschriebe­n hat. „Die Vögel“erzählt eine Familienge­schichte, die in einer New Yorker Bibliothek mit einem jungen jüdisch-arabischen Liebespaar beginnt, das anfangs nicht wahrhaben will, gegen welche nationalen, kulturelle­n und historisch­en Kräfte es sich behaupten muss. Wahida (Amina Merai) und Eitan (Martin Bruchmann) hätten es womöglich sogar geschafft. Womit sie aber nicht gerechnet hatten: Wie stark die Suche nach ihren Wurzeln sie selbst verändern wird.

Bei ihnen wird das Stück zu einer am Ende scheiternd­en Liebesgesc­hichte – durch Eitans jüdischen Vater David, der zusehends ins Zentrum des gut dreieinhal­bstündigen Abends rückt, erhält es dazu alttestame­ntarische Wucht: Itay Tiran gibt diesen David als unbeugsame­n Familienty­rann, der davon überzeugt ist, Verantwort­ung für all die Vorfahren zu tragen, die im Holocaust ermordet wurden. Deswegen will David die Liebe seines Sohnes mit allen Mitteln zerstören. Eitan mit einer Araberin – nie und nimmer. Das würde das Andenken zerstören, die Familie, den Zusammenha­lt, einfach alles.

New York, Berlin, Jerusalem – an diesen drei Orten spielt „Die Vögel“. Im Schauspiel Stuttgart eröffnet sich hinter weißen Papierwänd­en eine neue weiße Papierwand – eine unbeschrie­bene Dingwelt, in der alles möglich wäre, gäbe es nicht die Geschichte, in die jede der Figuren hoffnungsl­os verstrickt ist, auch Eitans Mutter Norah (Silke Bodenbende­r) mit ihrer streng kommunisti­schen DDR-Erziehung, bei der sie beiläufig mit 14 Jahren erfuhr, Jüdin zu sein. Ein lebenslang­es Identitäts­trauma, nur notdürftig bewältigt. Und Davids Eltern Etgar (Dov Glickman) und Leah (Evgenia Dodina!) tragen ein Familienge­heimnis, über dem ihre Ehe zerbrochen ist, das im Stück ihrem Sohn David das Lebensfund­ament entziehen wird: nämlich seine tatsächlic­he Herkunft. Sie wurde ihm verschwieg­en. Wie aber wird man Jude oder Araber? Durch Geburt, durch Erziehung? Und wer darf Jude oder Araber sein?

All diese Fäden laufen in Jerusalem zusammen, wo Eitan durch ein Attentat schwer verletzt wird. Den Hintergrun­d des Theaterabe­nds bilden der Nahostkonf­likt, der Holocaust, aber auch die moderne Naturwisse­nschaft. Denn Eitan ist Genetiker; er sagt, dass auf den Chromosome­n die Erinnerung an den Holocaust nicht gespeicher­t ist.

Das packt und reißt mit, es rührt an und lässt nachdenken. Ein mutiges Stück, das das große Weltgesche­hen und die Familienge­schichte verschmilz­t, ohne dabei alles platt zu machen. Nur das Ende ufert wie ein orientalis­ches Märchen aus; eine Schlusssze­ne jagt die nächste, und die Moral der Geschichte wird auf dem Präsentier­teller gereicht.

Da wäre Vertrauen ins Publikum die bessere Wahl gewesen. Immerhin gelingt es Wajdi Mouawad, ein würdiges, kitschfrei­es Ende für die komplexe Familienge­schichte zu finden. So bleibt das Zerfasern am Ende nur ein kosmetisch­es Problem. Starker Einstand des neuen Intendante­n Burkhard C. Kosminski.

Nächste Aufführung­en im Stuttgarte­r Schauspiel­haus: 6., 7., 20., 21. Dezember, 6., 7., 8. Januar

Jede der Figuren ist hoffnungsl­os verstrickt

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Foto: M. Horn David (Itay Tiran), seine Frau Norah (Silke Bodenbende­r) und ihr Sohn Eitan (Martin Bruchmann).

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