Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (46)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
Schwer, ihm etwas zu verweigern, seine Liebenswürdigkeit ist ungemein bestrickend, sie kommen einander näher, der Verkehr wird ungezwungener, es ergibt sich von selbst. Elli benimmt sich wie jemand, der mit zugeschnürter Kehle ein freundliches Gesicht machen will. Wo geht ihr hin? fragt sie, wo kommt ihr her? und lächelt. Anna fühlt sich ausspioniert. Trotz erwacht in ihr, eine spöttische Bemerkung, eine gelangweilte Miene genügt, und Leonhart wendet sich gereizt gegen seine Frau. Etwa: Sind wir in einem Kindergarten? Ist es verboten, miteinander zu plaudern? Elli lächelt. Abbittend. Sie findet nicht die rechten Worte mehr. Ihr ist, als ob zwischen ihr und Leonhart ein Schleier aufgespannt wäre, sie können nicht mehr harmlos zusammen sein, jedes Gespräch hat eine verborgene Härte, eine verdeckte Falle, die Einsamkeit, Zweisamkeit, in die sie sich zurückgezogen haben, wird unerträglich; widerspricht Elli einer Ansicht, die er äußert, so verstummt er sofort, hüllt sich stundenlang in Schweigen; wenn sie dann sein Gesicht anschaut, weiß sie, was er sinnt, und hat Angst, hat Angst. Eines Tages bittet er sie um Geldzuschuß. Er ist in Schwierigkeiten, Annas Reisen, die Unterbringung des Kindes haben beträchtliche Summen verschlungen, er kann sich nicht rühren, er braucht sechshundert Mark. Sie schreibt einen Scheck auf ihre Bank, er sieht ihn an, der Scheck lautet auf vierhundert. Ich habe dich um sechshundert ersucht, bemerkt er kalt. Sie erwidert, es seien nicht mehr Zinsen fällig. Er zuckt geringschätzig die Achseln. Zinsen? Willst du mich auf Zinsen legen? Behandelst du mich wie einen Studenten, der seinen Monatswechsel überschritten hat? Ich weiß, was ich tue, entgegnet sie mit abgewendetem Blick, und ihre Finger flechten sich ineinander, wenn wir anfangen, vom Kapital zu zehren, sind wir in zehn Jahren fertig. Er lacht ihr ins Gesicht: In zehn Jahren hoff ich’s so weit gebracht zu haben, daß ich auf deine Großmut verzichten kann; oder willst du bis an mein Lebensende den Vormund spielen? Elli zuckt zusammen, eine ihm unbekannte stumme Wildheit zeigt sich in ihrem Gesicht, sie sagt, indem sie ihm die Hand auf die Schulter legt: Du hast die Vormundschaft selbst gewollt. Sie schützt dich vor dir. Wenn es sein muß, werde ich dich auch gegen deinen Willen vor dir schützen. Er schweigt und macht große Augen. So hat sie nie gesprochen. Es ist wie ein drohendes Programm. Er ahnt plötzlich, worauf er sich gefaßt machen muß.
Nun fängt er an, die Abende außer Haus zu verbringen. Sie klagt nicht, beklagt sich nicht. Sie trachtet, offenen Zwist zu vermeiden. Sie sieht, daß sie mit jedem Schritt auf unterhöhlten Boden tritt, und bei jedem zittert sie vor dem nächsten. Sie fragt ihn nicht, zu wem er geht, erkundigt sich nicht, wenn er spät heimkommt, wo er war; aber bei seinen gewundenen Erklärungen und unverkennbar erdichteten Berichten von Konferenzen, Sitzungen, beruflichen Pflichten, denen er angeblich höchst ungern obliegt, wird ihr weh und bang. Einmal ertappt sie ihn auf einer glatten Lüge. Dort, wo er gewesen sein will, sind die Leute tags vorher abgereist; er hat übersehen, daß sie es leicht erfahren konnte. Er verschweigt ihr, aber sie weiß es, daß er fast täglich ins Kasino geht und Poker spielt. Er ist wieder, wie vor der Ehe, in maßloses Trinken und Rauchen geraten, von geregelter Arbeit ist keine Rede mehr; erst unter Waremmes überwältigendem Einfluß redet er wieder (aber redet nur, es bleibt bei Anläufen) von disziplinierter Tätigkeit, was nicht hindert, daß er die Nächte in Gesellschaft des verhängnisvollen Menschen verzecht, verspielt, verdebattiert.
In ihren bereits erwähnten Aufzeichnungen hatte sie sich des öfteren mit der Person Waremmes beschäftigt, bald in einer hingeworfenen Notiz, bald in längeren Betrachtungen, auch in einem Brief an Frau von Geldern äußerte sie sich über ihn. Sie überblickte ihn natürlich so wenig wie die meisten Menschen, die mit ihm zu tun hatten. Alles, was über ihn ausgesagt wurde, war genau so richtig wie das Gegenteil davon. Niemand kannte sich aus. Eine Zeitlang sprach die ganze Stadt nur von ihm, besonders am Anfang, im Winter 1904 auf 1905; da war es wirklich, als ob der Hecht in den Karpfenteich gefahren wäre und das Wasser zu Schaum schlüge. Spieler, Salonlöwe, Weiberheld, nun, das kennt man, der Typus ist nicht aufregend; zugleich aber Philolog, Philosoph, Dichter, Politiker, und in welchem Format! Kein hergeschneiter Dilettant, kein Gedächtnisakrobat, sondern ein produktiver Geist, etwas wie ein Teufelskerl, ein Universalgenie. Er arbeitet an einer neuen und, wie es heißt, grandiosen Übersetzung des ganzen Plato, aus der er seinen Freunden bisweilen Bruchstücke zum besten gibt, und hält Privatvorlesungen über Hegel und den Hegelianismus, der ja eben im Begriff ist, wieder in Blüte zu treten. Er veröffentlicht einen Band Deutsche Oden von Hölderlinschem Klang und führt in einer Zeitschrift für Altertumskunde den profunden Nachweis, daß die Parsifalsage durchaus nicht rein französischen Ursprungs sei, sondern in altgermanischer Mythe wurzele. Wie man hört, war er persona grata beim Fürstbischof von Breslau und ist durch diesen an den rheinischen hohen Klerus warm empfohlen worden.
Als überzeugter Katholik besucht er die Messe, lebt aber dabei geschieden von seiner Frau. Er hat weder Vermögen noch regelmäßiges Einkommen, weigert sich aber, ein Lehramt oder eine dotierte Stellung anzunehmen. Ist es, weil er seine Unabhängigkeit bewahren will (wenn er es beteuert, glaubt man ihm unbedingt), oder fließt ihm Geld aus irgendwelchen dunklen Quellen zu? Auch das könnte man glauben. Seine stärkste Wirksamkeit ist die philosophisch-politische. Mit aller Leidenschaft, die ihm innewohnt, verkündet er die deutsche Weltmission und erklärt, Deutschland müsse in seiner Enge ersticken, an den zerstörenden Elementen im eigenen Haus zugrunde gehen, wenn es sich nicht durch einen Krieg Luft mache. Dieser Krieg ist ihm religiöse Angelegenheit, er nennt ihn heilig, er fühlt sich als seinen Peter von Amiens. Indem er sich auf die historische Überlieferung stützt, die am Ausgang eines gesegneten Mittelalters durch die lateinisch-keltische Flut unterbrochen worden ist, errichtet er im Geist ein römisch-deutsches Imperium, das von Sizilien bis Livland und von Rotterdam bis an den Bosporus reicht. Alles muß dieser Konstruktion dienen, Kunst und Dichtung, Gotik und Barock, Renaissance und Antike, Christus und die Kirchenväter. Entweder ist es wirklich die Idee, die ihn zum Fanatiker macht (falls er einer ist), oder Fanatismus (falls er ihn hat) ist ein Bestandteil seines Wesens und treibt die Idee aus sich heraus, weil die Zeit dafür reif ist. 47. Fortsetzung folgt