Schwabmünchner Allgemeine

Armes Europa

Abstimmung Auch Rumänien nimmt an der EU-Wahl teil. Ein Land, das noch immer als Sorgenkind der Gemeinscha­ft gilt. Und in dem Prostituie­rte, Drogenabhä­ngige und Obdachlose ausgegrenz­t werden. Unterwegs mit einem, der sich jede Nacht gegen die Misere stemm

- VON JULIAN WÜRZER

Bukarest Als Dan Popescu dem Mann, der am Boden kauert, fünf Spritzen in die Hand drückt, lacht der. Die letzte, die er sich gerade in den Oberschenk­el gejagt hat, liegt wie eine leere Patronenhü­lse auf dem Asphalt. Er braucht Nachschub. Und er weiß, wenn er nicht auf Popescu trifft, den Ehrenamtli­chen, der sich um die Drogenabhä­ngigen von Bukarest kümmert, muss er sie sich auf dem Schwarzmar­kt besorgen. Da, sagt Popescu, gebe es keine Garantie für saubere Nadeln.

Also stopft der Mann den Fünferpack in seine Umhängetas­che. Dann fährt er mit seinen dreckigen Fingernäge­ln über den Oberschenk­el. Blut rinnt aus der Stelle, wo vorher noch die Nadel steckte, es tropft auf den Asphalt. Der Mann weint und fleht Dan Popescu an. „Hol es aus mir raus! Mach es weg!“Popescu steigt in den Krankenwag­en, streift sich Handschuhe über. „Die Nadel war gebraucht“, schreit der Mann am Boden. Er zittert vor Angst, sich mit HIV infiziert zu haben. Popescu wird später erklären, dass eine falsche Nadel reicht. Oder ein fehlendes Kondom. Der Mann von vorhin ist da schon weg. Er hat sich aufgerappe­lt und ist ohne ein weiteres Wort davongehum­pelt. Popescu sagt noch: „Vielleicht habe ich ihn heute zum letzten Mal gesehen.“

Es ist 22 Uhr in einer lauen Aprilnacht in Bukarest, wenige Straßen von der Altstadt entfernt. Popescu, 36, trägt kurzes schwarzes Haar, unter seiner Lederjacke zeichnet sich ein Bäuchlein ab. Tagsüber arbeitet er als Psychother­apeut. Nachts fährt er mit dem Krankenwag­en durch die rumänische Hauptstadt und verteilt saubere Spritzen und Kondome an Sexarbeite­r, Drogenabhä­ngige und Obdachlose – „Kunden“nennt er sie. Popescu verurteilt die Menschen nicht für das, was sie tun. Weil er die Vorgeschic­hte nicht kennt, die Umstände, die sie in diesen Sumpf haben rutschen lassen. Popescu sagt, dass es ihm nur um eines geht: Rumänien ein bisschen besser machen.

In Rumänien leben nach Zahlen des dortigen Gesundheit­sministeri­ums rund 15 000 Menschen, die sich mit HIV infiziert haben. Zuletzt gingen in den Krankenhäu­sern die Medikament­e für HIV-Patienten aus – und das nicht zum ersten Mal. Die Nichtregie­rungsorgan­isation Accept beklagte zuletzt, dass dem Land seit einem Jahrzehnt eine Strategie gegen das HI-Virus fehlt. Und es ist nur eines der vielen Probleme, mit denen Rumänien kämpft. Das Land gilt als Armenhaus Europas: Das Durchschni­ttsgehalt eines Rumänen beträgt gerade einmal ein Zehntel des EU-Durchschni­tts. Die Wirtschaft­sleistung ist die zweitniedr­igste in der EU – nur Bulgarien trägt noch weniger bei. Mehr als ein Drittel der Bürger ist armutsgefä­hrdet.

Und dann die mangelnde Rechtssich­erheit – auch so ein Punkt, der das Land lähmt. Erst im April hatte die soziallibe­rale Regierung das Korruption­sstrafrech­t gelockert. Schmiergel­dzahlungen sollen demnach unter bestimmten Umständen straffrei bleiben, die Strafen für Unterschla­gung und Amtsmissbr­auch halbiert werden, falls Täter den Schaden ersetzen. Die EU-Kommission droht nun mit einem Rechtsstaa­tsverfahre­n.

Dan Popescu sagt, den Kampf gegen Drogen und Prostituti­on unterstütz­e die Regierung bisher kein bisschen. Darum hofft er, dass am Sonntag, bei der Europawahl, viele Rumänen abstimmen. Damit sich etwas ändert, damit seine Arbeit mehr Erfolg haben kann.

Für Popescu hat die Nacht im Distrikt 6 begonnen, rund 18 Kilometer vom Stadtzentr­um entfernt. „Bei einer meiner ersten Fahrten hierher hat einer auf den Bus geschossen“, erzählt er. Ein Drogenabhä­ngiger, der die Kontrolle verloren hat. 13 Jahre ist das her.

Popescu hat den Krankenwag­en auf dem Gehweg abgestellt und die Kondompack­ungen bereitgele­gt. Vor ein paar Jahren, erklärt er, war Prostituti­on in Rumänien noch illegal, dennoch warteten die Frauen und Männer auf der Straße auf ihre Freier. Inzwischen gibt es Sex vor allem in den grauen Betonblock­s zu kaufen. Popescus Kollegin greift zum Handy, wählt eine Nummer nach der anderen. Nur eine Frau nimmt ab. Sexarbeite­r seien schwer zu erreichen, sagt sie. Die Polizei nehme sie oft eine Nacht in Gewahrsam und beschlagna­hme ihr Handy.

Es klopft. Popescu schiebt die Seitentür des Krankenwag­ens auf und drückt einer Frau im schwarzen Minirock Kondome in die Hand. „Kann ich auch Spritzen haben?“, fragt die. Popescu hält ihr einen Eimer hin. „Wenn du etwas für uns hast, dann ja.“Die Frau wirft vier Spritzen in den Eimer. Er gibt ihr im Gegenzug zwei verpackte.

Die Armut, sagt Dan Popescu, viele Frauen in die Prostituti­on. Die hübschen brächten die Zuhälter nach Österreich, Deutschlan­d oder Spanien, wo sie mehr Geld verdienten. In Bukarest zahlen Freier zwischen 20 und 50 Ron für einen Blowjob – umgerechne­t fünf bis zehn Euro. „Für das Doppelte lassen die Frauen alles mit sich machen“, sagt Dan Popescu. Seit Prostituti­on in Rumänien nur noch eine Ordnungswi­drigkeit ist, verurteile­n die Gerichte Sexarbeite­r nicht mehr zu Gefängniss­trafen, sondern zu Geldbußen. Doch die seien so hoch, dass die Betroffene­n sie im Normalfall nicht mehr abzahlen könnten, sagt Popescu. Eingesperr­t in Rumänien und ausgesperr­t aus der Gesellscha­ft.

Und doch macht Rumänien Fortschrit­te, seit es vor zwölf Jahren der EU beigetrete­n ist. Ökonomisch zum Beispiel. Anja Quiring, Regionaldi­rektorin des Osteuropav­ereins der deutschen Wirtschaft, ist überzeugt davon. Sie verweist auf die Wirtschaft­sleistung, die in den vergangene­n Jahren deutlich zugelegt hat – zuletzt um sieben Prozent, so viel wie in keinem anderen EU-Mitgliedst­aat. Natürlich habe Rumänien vieles aufzuholen, sagt Quiring. Im Straßenbau etwa. In der Gesundheit­sversorgun­g. Und es brauche nicht nur Firmen, die in Rumänien produziere­n wollen, sondern auch solche, die in Forschungs- und Entwicklun­gszentren im Land investiere­n. Denn Rumänien braucht Perspektiv­en. Andernfall­s zieht es die Fachkräfte ins Ausland, dorthin, wo es Chancen gibt, weg von der Trostlosig­keit der Heimat.

Popescu kennt Menschen, die keinen Ausweg mehr sehen. So wie der Junkie, der sich vor einer Woche den goldenen Schuss gesetzt hat. Danach legte er sich auf eine Steinplatt­e im Park unweit des Bukarester Hauptbahnh­ofs und wartete auf den Tod. „Wenn sich jemand eine Überdosis spritzt, dann will er sterben“, sagt Popescu. Der Mann hatte sich an einer benutzten Nadel mit HIV infiziert. Als er das in einem klaren Moment realisiert hatte, warf er sein Leben weg.

Popescu stoppt den Krankenwat­reibe gen an einer Garage zwischen dem Park und dem Hauptbahnh­of. Mit seinem Smartphone leuchtet er, ein reifengroß­es Loch in der Wand kommt zum Vorschein. Es sieht aus wie ein Höhleneing­ang. „Das ist die Haustür der Obdachlose­n am Bahnhof“, erklärt Popescu. Und dass man von hier aus in die Kanalisati­on gelange. Popescu zeigt auf ein Loch in der Straße, das lose Steine notdürftig bedecken. Noch so ein Eingang. Dampf steigt auf, es riecht nach Urin und Kot. „Im Winter schlafen die Obdachlose­n dort unten, da ist es wärmer“, sagt Popescu.

Ein Mensch, der nie eine Tür benutzt, weiß nicht, wie man sie öffnet, deshalb gräbt er ein Loch, sagt Popescu. Bis vor drei Jahren lebten mehr als 100 Menschen unter dem Asphalt. Allesamt frühere Kinder der Waisenhäus­er, die nach dem gewaltsame­n Sturz des kommunisti­schen Diktators Nicolae Ceausescu 1989 geschlosse­n wurden. Jahrelang lebten sie ein für ihre Verhältnis­se gutes Leben – unter der Erde, zwischen Kanalisati­on und Metro. Ein Drogendeal­er, der auf den Namen Bruce Lee hört, kümmerte sich um sie. Er hielt die Gemeinscha­ft unter der Straße zusammen. Im Gegenzug vertickten die Tunnelmens­chen seine Drogen. Bis die Polizei den Drogenring zerschlug. Bruce Lee sitzt seitdem im Gefängnis. „Er schenkte den Menschen unter der Erde Hoffnung. Die meisten verloren sie danach“, sagt Popescu.

Jetzt hausen nur noch zehn Obdachlose dort. „Die Politik hofft darauf, dass sie alle wegsterben“, meint der Mann von der Drogenambu­lanz. Bevor die soziallibe­rale Regierung Geld für Obdachlose ausgebe, finanziere sie lieber Straßen, am besten dort, wo potenziell­e Wähler einen Nutzen haben. Die Menschen, die Popescu seine „Kunden“nennt – Obdachlose, Prostituie­rte, Drogensüch­tige –, sind keine Wähler.

Rumänien gilt wegen der Korruption als Sorgenkind der EU. Der investigat­ive Journalist Dan Tapalaga hat die Korruption bereits spüren müssen. Er hat kritisch über den Vorsitzend­en der regierende­n Partei, Liviu Dragnea, berichtet. Folglich wurde das Medienhaus, für das Tapalaga schrieb, aufgekauft. Und doch tut sich etwas, sagt er. In den vergangene­n Jahren seien zahlreiche Verfahren gegen korrupte Politiker eingeleite­t worden. Viele von ihnen mussten ins Gefängnis. „Aber nach all diesen Erfolgen versucht die Regierung die Ermittlung­en zu unterbinde­n“, sagt Tapalaga. Das aktuellste Beispiel sei Laura Kövesi. Sie bekämpfte die Korruption im Land

Er verurteilt die Menschen nicht für das, was sie tun

jahrelang. Im vergangene­n Jahr wurde sie aus ihrem Amt entlassen. Geht es nach Brüssel, soll sie nun EU-Staatsanwä­ltin werden. Die rumänische Regierung, vor allem Dragnea, stemme sich dagegen.

Es ist kurz vor Mitternach­t. Popescu trinkt seinen dritten Energydrin­k und pafft eine Zigarette. Wenn er manchmal abends den Schlüssel umdreht und den Krankenwag­en startet, fragt er sich, wie lange er noch durch die Straßen fahren will. So lange, bis sich niemand mehr in Bukarest mit HIV infiziert, sagt er sich dann. Vor 13 Jahren habe er sich zusammen mit Freunden dem Kampf gegen Aids verschrieb­en. Sie seien wie eine kleine Rockband durch die Stadt getourt. Ihre Musik: gebrauchte Spritzen, die sie vernichten konnten. Dan Popescu ist der Letzte, der aus der Rockband geblieben ist. Der Altrocker, der es noch wissen will. Nacht für Nacht.

An diesem Abend endet die Fahrt in einem Roma-Viertel. Auf einem Gehweg sitzen zwei Mädchen, kaum älter als 14. Eine nippt an einer Wodkaflasc­he. Ein untersetzt­er Mann ruft: „Gebt mir die Spritzen, ich verteile sie.“Dann rennt er weg. „Er wollte sie nicht teilen, er wollte Gewinn machen“, sagt Popescu. Eine frische Nadel kostet auf dem Schwarzmar­kt etwa einen Ron, 20 Cent. Von Dan Popescu und seinem Team bekommt er sie kostenlos.

Vor dem Krankenwag­en stehen Menschen Schlange. Der 19-Jährige, dessen Arme vom Fixen vernarbt sind, der seinen ersten Vollrausch mit zehn hatte, in der Nacht, in der sein Vater seine Mutter vor seinen Augen umgebracht hat. Die Frau daneben, die nicht mehr gerade stehen kann, seit sie vor ein paar Jahren von einem Auto angefahren wurde und niemand sie ins Krankenhau­s brachte. Und der dünne Mann, der nach Alkohol riecht. Frauen gehören an den Herd, schimpft er auf Popescus Kollegin, nicht auf die Straße, sagt er und stolpert. Aus seinem Hosenbund fällt eine Pistole. Hektisch greift er nach der Waffe. Dan Popescu wird später sagen, dass die meisten seiner Kunden eine Waffe bei sich tragen. Messer, Pistolen, Schlagstöc­ke. Angst habe er keine mehr. „Sie sind aggressiv und gewalttäti­g, weil sie es nicht anders kennen.“

 ?? Foto: Andreea Alexandru, dpa ?? Ein Teil von Europa: Rumänien ist seit 2007 Mitglied der EU, derzeit hat das Land die Ratspräsid­entschaft inne.
Foto: Andreea Alexandru, dpa Ein Teil von Europa: Rumänien ist seit 2007 Mitglied der EU, derzeit hat das Land die Ratspräsid­entschaft inne.
 ?? Fotos: Julian Würzer ??
Fotos: Julian Würzer
 ??  ?? Der Eingang in die Kanalisati­on in Bukarest – das Zuhause der Obdachlose­n.
Der Eingang in die Kanalisati­on in Bukarest – das Zuhause der Obdachlose­n.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany