Schwabmünchner Allgemeine

„Wir waren nicht besser, aber…“

Interview Der frühere Daimler-Chef Reuter geißelt Gehaltsexz­esse bei Konzernen und knöpft sich die Europa-Politik der Kanzlerin vor. Zur miesen Stimmung im Land hat er seine eigene Theorie

- Interview: Christian Grimm

Herr Reuter, trotz einer Dekade des wirtschaft­lichen Aufschwung­s ist die Gesellscha­ft im Unfrieden, es wird erbittert gestritten, Gruppen driften auseinande­r. Wie blicken Sie auf unser Land im Jahr 2019?

Edzard Reuter: In einem gewissen Sinn befinden wir uns wohl tatsächlic­h in einer kritischen Situation. Da will ich nicht darauf abstellen, dass sich die Wirtschaft etwas abzukühlen scheint. Vielmehr geht es mir darum, dass es vielleicht zumindest einer Mehrheit von uns zu gut geht. Dass es zuletzt immer bergauf ging, verführt anscheinen­d dazu, über alles nur Denkbare zu meckern oder es zumindest gering zu schätzen. Das hat sich eingebürge­rt und strahlt erkennbar auch auf die Parteienla­ndschaft aus. Das Aufkommen der AfD erscheint mir in diesem Sinne als ein Kennzeiche­n einer weit verbreitet­en allgemeine­n Unzufriede­nheit und Unlust.

Dann müsste die Stimmung doch eigentlich leicht zu drehen sein? Reuter: Eigentlich schon. Aber die etablierte­n Parteien allesamt, vor allem die drei Partner der Großen Koalition, sind ganz offenbar ermüdet und erschlafft. Sie haben weder die Kraft noch den Mut, über die grundlegen­d wichtigen Fragen, die uns umtreiben müssten, kontrovers und zugleich fair zu diskutiere­n. Das gilt besonders für eine Reihe von sozialpoli­tischen Problemen, vor allem aber natürlich für das Thema Europa.

Ist die AfD also, wie Sie andeuten, ein Ventil für aufgestaut­en Frust, der auf dieser Brache erwächst?

Reuter: Sicher ist die AfD auch ein Ventil. Zugleich zeugt ihr Aufkommen allerdings von einer grenzenlos­en Leichtfert­igkeit. Diese gaukelt uns vor, wir sollten weitgehend zurück zu einer nationalen Abschottun­g, indem wir uns auf unsere angeblich eigenen Interessen konzentrie­ren. Das krasseste Beispiel dafür ist natürlich in der Einwanderu­ngspolitik zu sehen, wo uns nach Art der Ungarn empfohlen wird, uns von jeglichen nicht benötigten Flüchtling­en abzuschott­en.

Also liegt Juso-Chef Kevin Kühnert mit seinen Ideen über die Vergemeins­chaftung von Immobilien und einem Autokonzer­n doch nicht so falsch, indem er große Fragen anschneide­t? Reuter: Natürlich ist es eine Kinderei, zu glauben, man könne die Probleme Deutschlan­ds lösen, indem man BMW in Gemeineige­ntum überführt. Das darf uns aber nicht daran hindern, ernsthaft über manche andere Themen zu diskutiere­n und zu streiten, die Kevin Kühnert zwar keineswegs neu erdacht, aber in der ihm eigenen Drastik aufs Tapet bringt. Wie sieht es wirklich aus mit Lösungen für den Wohnungsba­u? Wie ist das Problem der steiMieten in den Griff zu kriegen? Wie helfen wir den Menschen, die im Alter finanziell nackt dastehen? Diese Debatte darf nicht totgetramp­elt werden, indem man es sich leicht macht und lediglich vor einer Wiederbele­bung sozialisti­scher Spinnerei warnt.

Plädiert hier ein früherer Chef eines Dax-Konzerns für den Ausbau des Sozialstaa­ts?

Reuter: Wenn Sie den Begriff „Ausbau“durch „Umbau“ersetzen, ist Ihr Eindruck zutreffend.

Als Ausdruck der Ungerechti­gkeit empört viele Menschen das Gebaren der Manager. Selbst die Firmenlenk­er, die ihre Unternehme­n vor die Wand gefahren haben, gehen mit Millionen an Abfindunge­n nach Hause. Waren Sie als Manager früher besser?

Reuter: Natürlich waren wir nicht besser. Aber vielleicht war es eine Zeit, in der Moral höher zählte und menschlich­e Gier, von der niemand ausgenomme­n ist, noch nicht so ungezügelt losgelasse­n war wie im Augenblick. Bekommen die Manager zu viel Geld? Reuter: Bei den großen Dax-Unternehme­n ist eindeutig eine Grenze überschrit­ten, was aus ethischer Sicht nicht zu vertreten ist. Wir sollten diese Ausreißer aber nicht mit der riesengroß­en Mehrzahl der zum großen Teil mittelstän­dischen Unternehme­n in einen Topf werfen, wo Bescheiden­heit noch kein Fremdwort ist.

Wir stehen wenige Tage vor der Europawahl. Dabei werden Europa-Gegner wohl deutlich an Boden gutmachen. Sehen Sie die Europäisch­e Union in Gefahr, in dem Sinne, dass sie zurückgedr­eht werden könnte?

Reuter: Diese Gefahr sehe ich durchaus. In allzu vielen Mitgliedsl­ändern nimmt die um sich greifende Wiederbele­bung nationalis­tischer Einstellun­gen täglich weiter zu. Das ist in der Tat lebensgefä­hrlich. Denn hinter dem Getöse ist völlig aus dem Blick geraten, dass wir Europäer in den großen weltpoliti­schen Auseinande­rsetzungen, wie etwa zwischen den USA und China, schlankweg den Anschluss verlieren wergenden den, wenn wir nicht ein vergleichb­ares Gewicht auf die Waage bringen. Genauso gilt dies aber auch für die Geschehnis­se vor unserer Haustür, im Nahen Osten.

Wenn Sie als ehemaliger Chef eines Weltkonzer­ns auf Europa blicken, trifft es dann zu, dass der Staatenklu­b unsere Lebensvers­icherung ist? Reuter: Eine Lebensvers­icherung wird erst gebraucht, wenn der Schaden schon eingetrete­n ist. Insofern passt die Begrifflic­hkeit nicht recht. Vielmehr geht es darum, dass wir als Europäer endlich begreifen müssen, dass es darum geht, um unseren den Platz in der Welt zu kämpfen. Dafür wird ein reiner „Klub“nicht ausreichen, sondern eine Vereinigun­g benötigt, die mit einer Sprache spricht.

Frankreich­s Präsident Macron wollte genau das mit seinen hochfliege­nden Plänen erreichen und ist an der Passivität von Bundeskanz­lerin Angela Merkel gescheiter­t. Hat sie diesen Kampf für Europa richtig geführt? Reuter: Meine Antwort ist laut und deutlich: Nein. Das große Versäumnis aller der von Angela Merkel geführten Regierunge­n war und ist, dass sie es versäumt haben, ein zukunftswe­isendes Konzept für die Vereinigun­g Europas zu entwickeln und gemeinsam mit Frankreich und anderen Partnern Schritt um Schritt voranzubri­ngen. Diese Chance ist vertan worden. Vielmehr haben wir uns darauf beschränkt, als Musterknab­en aufzutrete­n und dabei vor allem unsere Taschen zuzuhalten. Dabei hat kein anderes Land wirtschaft­lich so stark von der EU profitiert wie Deutschlan­d.

Von europäisch­er, gar weltpoliti­scher Dimension war der Mauerfall, der sich heuer zum dreißigste­n Mal jährt. Vereinzelt beginnt jetzt eine Debatte, die Ereignisse der Revolution in der DDR und die Wiedervere­inigung anders zu diskutiere­n und den Blick auf die Ostdeutsch­en zu richten. Braucht es eine Neubewertu­ng von 1989/90?

Reuter: Natürlich wird es immer notwendig bleiben, derartige Diskussion­en zu führen. Trotzdem bin ich überzeugt davon, dass das Thema im Moment viel zu hoch aufgehängt wird. Es ist eines der Kennzeiche­n für das, was ich zu Beginn unseres Gesprächs angemerkt habe: In mancherlei Hinsicht geht es uns womöglich zu gut und wir vernachläs­sigen sträflich die Themen, die uns eigentlich vorrangig umtreiben sollten.

Edzard Reuter, 91, war von 1987 bis 1995 Vorstandsv­orsitzende­r der Daimler AG. Er ist der Sohn des früheren Berliner Bürgermeis­ters Ernst Reuter (SPD). Weil seine Familie vor den Nazis fliehen musste, verbrachte Reuter seine Kindheit in der Türkei. Er ist Mitglied der SPD.

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Archivfoto: Jens Wolf, dpa Der 91-jährige Edzard Reuter spricht auch über die Unzufriede­nheit der Menschen, denen es mehrheitli­ch gut zu gehen scheint.

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