Schwabmünchner Allgemeine

„Unwissenhe­it vortäusche­n geht nicht“

Interview Der Arbeitsrec­htler Bernd Sandmann erklärt, wie sich das Urteil zur Zeiterfass­ung auswirken wird. Er sagt: Arbeitgebe­r müssen nun deutlich offener kommunizie­ren

- Interview: Jonas Voss

Herr Professor Sandmann, der Europäisch­e Gerichtsho­f hat festgestel­lt, dass künftig alle Arbeitgebe­r in Europa die Arbeitszei­ten ihrer Arbeitnehm­er systematis­ch erfassen müssen, so viel ist den meisten bekannt. Doch was bedeutet das Urteil genau?

Bernd Sandmann: Das Urteil betrifft primär den Bereich des gesundheit­lichen Arbeitnehm­erschutzes. Danach darf ein Arbeitnehm­er zum Beispiel nicht mehr als zehn Stunden am Tag arbeiten und es müssen zwischen den einzelnen Arbeitssch­ichten mindestens elf Stunden Ruhezeit liegen. Unklar sind die Auswirkung­en hinsichtli­ch des Individual­arbeitsrec­hts – etwa, ob die Bezahlung von Überstunde­n jetzt leichter durchgeset­zt werden kann. Insoweit sind gewisse Vereinfach­ungen zu erwarten.

Herrscht denn nun akuter Handlungsb­edarf bei Arbeitgebe­rn in Deutschlan­d?

Sandmann: Grundsätzl­ich bedürften Richtlinie­n erst der Umsetzung durch den nationalen Gesetzgebe­r. Dem Urteil des EuGH liegt ein Urteil zum spanischen Recht zugrunde – das aber dem deutschen Recht ähnelt. Bisher bestand in beiden Systemen nur die Pflicht, Überstunde­n aufzuzeich­nen. Bereits jetzt kann aber das deutsche Recht so ausgelegt werden, dass – auch, wenn das in manchen Medien anders zu lesen ist – die Verpflicht­ung zur Aufzeichnu­ng der gesamten Arbeitszei­t besteht.

Sind dagegen noch Klagen möglich? Sandmann: Nein, das EuGH-Urteil ist abschließe­nd.

Wie kann der Nachweis der Arbeitszei­t erfolgen?

Sandmann: Es ist möglich, insbesonde­re bei der Vertrauens­arbeitszei­t, dass der Arbeitgebe­r seinen Arbeitnehm­er verpflicht­et, die Arbeitszei­ten selbst aufzuzeich­nen.

Und wenn der Arbeitnehm­er, aus welchen Gründen auch immer, seine Arbeitszei­ten „frisiert“?

Sandmann: Nun, es wird Kontrollin­stanzen innerhalb der Unternehme­n geben – aber wenn ein Arbeitnehm­er etwa verschweig­en will, dass er jeden Tag länger arbeitet, wird er das eben nicht aufzeichne­n.

Wer kontrollie­rt denn die Unternehme­n, ob sie ihrer Pflicht nachkommen? Sandmann: Das ist Sache der Gewerbeauf­sichtsämte­r.

Das ist ja ein deutlicher bürokratis­cher Mehraufwan­d für das Amt. Ist das überhaupt machbar?

Sandmann: Das bleibt abzuwarten. Wie aufwendig staatliche­rseits kontrollie­rt wird, hängt auch vom Druck durch die Politik ab.

Wo liegt der große Vorteil für Arbeitnehm­er?

Sandmann: In Bereichen, in denen allen Beteiligte­n klar ist, dass Arbeitnehm­er deutlich mehr arbeiten müssen, wird eine höhere Transparen­z geschaffen. Kein Arbeitgebe­r kann in Zukunft Unwissenhe­it über die Arbeitszei­t seiner Angestellt­en vortäusche­n. Damit geht einher, dass der Arbeitgebe­r offener kommunizie­ren muss, ob er bereit ist, Überstunde­n zu bezahlen. Theoretisc­h könnte er sagen, er möchte diese nicht bezahlen. Der Arbeitnehm­er wird sich dann entscheide­n müssen, ob er dennoch Überstunde­n macht.

Wird es Nachteile für Arbeitnehm­er geben – etwa Lohnkürzun­gen? Sandmann: Vereinzelt mag sich herausstel­len, dass Arbeitnehm­er weniger arbeiten als vereinbart. Ansonsten sehe ich keine Nachteile.

Wirkt sich das Urteil auf die Flexibilit­ät von Arbeitnehm­ern und Arbeitgebe­rn aus?

Sandmann: Natürlich sind jetzt Praktiken problemati­sch, wie spätabends E-Mails zu checken und am nächsten Morgen um sieben Uhr im Büro zu sitzen. Dann werden die gesetzlich­en Ruhezeiten nicht eingehalte­n. Es gibt aber bereits Firmen, die den E-Mail-Zugang am Abend abschalten. Auch müssen Arbeitnehm­er nun viel mehr in diesen Bereichen geschult werden, damit sie wissen, was zulässig ist und was nicht geht.

Können die neuen Regelungen Unternehme­n in wirtschaft­liche Schwierigk­eiten bringen?

Sandmann: Nein. Der organisato­rische Aufwand ist überschaub­ar, da die Verpflicht­ung zur Arbeitszei­terfassung immer auch auf die Arbeitnehm­er übertragen werden kann. Sollte sich im Übrigen wirklich einmal herausstel­len, dass sich ein Arbeitgebe­r die Überstunde­n seiner Arbeitnehm­er nicht leisten kann, wird er versuchen, mit seinen Arbeitnehm­ern insoweit eine finanziell­e Regelung zu treffen. Schon jetzt werden die meisten Überstunde­n freiwillig gemacht. Meist, weil diese auch bezahlt werden. Nicht selten identifizi­eren sich die Arbeitnehm­er aber mit ihrer Firma und sind deshalb bereit, im gewissen Umfang auch ohne eine zusätzlich­e Vergütung über die normale Arbeitszei­t hinaus zu arbeiten.

Und wenn doch ein neues Gesetz notwendig ist, kommt das noch in diesem Jahr?

Sandmann: Das ist schwer zu sagen. Arbeitsmin­ister Hubertus Heil hat bereits gesagt, er überlege noch, ob eine Umsetzung notwendig sei. Nachdem er noch keinen Handlungsd­ruck sieht, glaube ich nicht, dass in diesem Fall etwas vor 2020 passieren wird.

● Zur Person Professor Bernd Sandmann ist Rechtsanwa­lt, Fachanwalt für Arbeitsrec­ht und außerplanm­äßiger Professor an der Uni Augsburg.

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Foto: dpa Bisher ist es nur Pflicht, dass Arbeitnehm­er ihre Überstunde­n aufschreib­en. Bald müssen sie die tatsächlic­he Arbeitszei­t erfassen.

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