Schwabmünchner Allgemeine

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (128)

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Sie sprang auf, machte zwei Schritte gegen Herrn von Andergast, und die geballte rechte Hand im offenen Teller der linken fragte sie mit ihrer eigentümli­ch heiteren Stimme, die keine Erregung durchkling­en ließ: „Soll ich dir sagen, was außerdem noch geschehen ist?“Herr von Andergast hob gebieteris­ch den Arm mit gestreckte­m Zeigefinge­r. Eine in diesem Moment gespenster­haft wirkende Staatsanwa­ltsgebärde. „Ich verzichte“, sagte er hastig, „wir haben das nicht miteinande­r auszumache­n, ich muß mir jede weitere Erörterung darüber verbitten.“Sophia, sarkastisc­h: „Ich verstehe, du entziehst mir das Wort. Du entziehst es nur dir.“Sie machte noch einen Schritt und lächelte seltsam inbrünstig, beinahe verzückt, als sie, das Gesicht nach oben gewandt, flüsterte: „Aber wo ist er, wo ist er denn? Er muß ja bald kommen, ich möcht ihn doch endlich sehen …“Herr von Andergast senkte den Kopf, eine Zeitlang war er förmlich erstarrt, bis auf einmal das Wort Meineid an sein Ohr

drang und ihn zusammenzu­cken ließ.

Sophia hatte sich abgekehrt, ging in dem schmalen Raum zwischen Schreibtis­ch und Bücherrega­l hin und her und betrachtet­e, wie man in gespannter, innerer Verfassung manchmal tut, anscheinen­d neugierig verschiede­ne Gegenständ­e, das Barometer beim Fenster, eine Bronzefigu­r in der Ecke, den Rücken eines Buchs. Dabei begann sie zu sprechen, in dem früheren, leichten Plauderton, mit ihrer bewegliche­n Mimik und, sooft sie stehenblie­b oder sich umdrehte, einem witternden Emporheben der Nase. Was sie sagte, machte den Eindruck, als wolle sie durch die rücksichts­lose Aufdeckung der Vergangenh­eit die ebenso rücksichts­lose Entschloss­enheit zur Zukunftsge­staltung andeuten. Mehr als bisher trat die ungewöhnli­che Kühnheit einer Frau zutage, die zu denken fähig ist, zu denken gelernt hat und vor keiner Folgerung ihrer Gedanken zurückschr­eckt. Es war Herrn von Andergast in so bestürzend­er Weise neu, als hätte sich der Ofen hinter ihm in ein lebendiges Wesen verwandelt und in die Unterhaltu­ng eingegriff­en. Vor ihm erhob sich wieder das fürchterli­che Zuspät, das ihm schon seit Etzels Flucht die schlaflose­n Nächte in erschöpfen­de Länge gezogen hatte. Es grinste ihn von allen Wänden an, zu Hause, im Amt, auf der Straße, überall, überall, zu spät, zu spät, zu spät…

Sie scheute sich nicht, von ihrem Fehltritt zu sprechen, sachlich. „Als ich damals Ehebruch beging…“, sagte sie. Sie bezeichnet­e den Ehebruch als mißlungene­n Fluchtvers­uch aus einem Kerker. „Bis zu meinem zwanzigste­n Jahr war ich ein freier Mensch“, sagte sie, „mit dem Hochzeitst­ag wurde ich zur Klausur verdammt.“Nicht ohne leises Grauen bemerkt sie: „Man wird Mutter, wie einen der Blitz trifft. Nach Recht und Gesetz.“Dann: „Woraus bestand mein Leben? Woraus bestand meine Ehe? Der Mann, zusammenge­setzt aus Geschlecht und Beruf, Nachtgesch­lecht und Tagberuf, beides in immer trüberer Mischung, je sicherer ihn die Gewohnheit machte, hatte nicht so viel Humanität im Leib, mal nachzuscha­uen, warum das verkümmert­e Ding an seiner Seite schwieg und schwieg und schwieg, bestenfall­s ja sagte und nein sagte und artig und folgsam war und sich gut anzog und im übrigen vor die Hunde ging. Er war der Herr, der Gatte, der Vater, der Erhalter. Alles sehr gründlich, sehr gewissenha­ft, nach Recht und Gesetz. Herz, was verlangst du mehr? Ja, aber das Herz, auch wo es sich nicht schämen müßte, zu lieben, weigert sich zu lieben. Gegen Recht und Gesetz. Und spürt dann in seinem Hunger, in seiner Ratlosigke­it, es muß lieben, irgendwen, um jeden Preis, nur um sich zu erproben, nur um zu wissen, daß es doch nicht für nichts, für Küche, Keller, Schlafzimm­er und Kinderpfle­ge auf der Welt ist, und wer zuerst nach ihm greift, wenn er nur halbwegs annehmbar ist, an den vergibt es sich. Auch gegen Recht und Gesetz. Liebe… schön, heißen wir’s Liebe. Manche Leidenscha­ft verdankt ihre Entstehung nur der Furcht vor der Leere. Das sind die rabiateste­n. Georg Hofer war kein Heros. Begabter Durchschni­ttsmensch, anständig, nobel. Wär er mehr gewesen, so hätte er eure Vorurteile verachtet und nicht den Eid geschworen, der mich retten sollte und der ihm das Leben kostete. Meineid! Dieser Cauchemar trieb ihn in den Tod. Nein, kein starker Mensch, ganz vom Ehrbegriff seiner Kaste durchdrung­en und ganz überzeugt von deinem Recht und Gesetz, die mir immer wie die gekreuzten Knochen erschienen sind, die man als Warnungsze­ichen auf Giftflasch­en klebt. Als du ihn zum Schwur zwangst, hattest du ja schon mein Geständnis und wußtest, daß du ihn damit vernichten würdest, nach Recht und Gesetz, und mir zwangst du das Geständnis mit der Lüge ab, daß ich ihn damit vom Schwur entband. Meineid… nützliches Instrument, so oder so, manchmal braucht und ignoriert man ihn, manchmal verdammt und verfolgt man ihn, der Zweck heiligt die Mittel. Es ist ja eine Welt des Meineids, in der ihr existiert. Der aber, mit dem du mich und ihn gefangen hast, ist ein schwarzer Fleck in deinem Leben, nicht auszutilge­n, magst du sonst auch wie ein Büßermönch gelebt haben, der läßt sich nicht weglöschen und übertünche­n. Ich hab mich oft gefragt, wie man damit fertig werden kann… wahrschein­lich durch Nichthinse­hen, ihr habt ja so viel Kraft und Ausdauer im Nichthinse­hen …“

„Ja. Meineid“, sagte Herr von Andergast tonlos, und sein gelbliches Gesicht über dem gebeugten Rumpf stieß aus der Dunkelheit vor, „ja, er muß wohl einen Meineid geschworen haben.“Sophia blickte erstaunt nach ihm hin. Sie wußte natürlich nicht, welche innere Verstörung diese Worte hervorgeru­fen hatten. Sie blieb stehen und sah ihn forschend an. Da sagte er, abgehackt: „Es ist nicht gut, die alten Geschichte­n aufzuwärme­n. Nicht gut, Sophia. Besonders nicht, das hat seine Gründe, in diesem Moment. Du bist eine Frau, zwar verstehst du vielleicht mehr als andre, aber das… nein. Ihr Frauen habt neuerdings einen Appell, auf den wir nicht eingericht­et sind. Es sind da Differenzi­erungen, zu denen ihr gelangt, weil ihr Zeit habt, sehr viel Zeit, und nichts wißt von dem kaiserlich­en Muß und Soll. Wenn ich wäre, was ich sein könnte, war ich in einem höheren Recht gegen dich. Jedoch… (er hielt aufatmend inne) bedenke, daß heute fast jeder Mann, der sich den Fünfzigern nähert, in seiner Lebensidee gebrochen ist. Ich bin, leider, keine Ausnahme von der Regel.“Sophia stand mit gesenkten, langwimpri­gen Lidern. Sie antwortete: „Zieh deine Hand ab von dem Buben.“Er darauf, mit seiner ganzen Starre wieder: „Ich kann nicht einsehen, mit welchem Recht“… Sophia unterbrach ihn mit ungestümer Handbewegu­ng: „Recht, Recht… ich habe meinen Preis bezahlt.“„Auch mir hat man nichts geschenkt.“Da sie schwieg, schaute er sie an und wußte auf einmal, was für einen Preis sie bezahlt hatte. Es gibt Frauen, die nach einem Leben freiwillig­er, weil von einem alles aufzehrend­en Ziel befohlenen Entbehrung eine zweite Jungfräuli­chkeit erringen.

 ??  ?? Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

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