Schwabmünchner Allgemeine

Wir sind dann mal unterwegs

Mit dem Interrail-Pass Europa entdecken – das ist nicht nur was für junge Leute, sondern auch ein unvergessl­iches Familiener­lebnis

- Von Roland Wiedemann

Endlich unterwegs – noch dazu so komfortabe­l und rasend schnell. Der ICE rauscht mit Tempo 200 Richtung Amsterdam, der ersten Station des Familien-Interrail-Trips durch Europa. Interrail – ja das gibt es noch, auch für Familien, wenngleich sich seit der eigenen Studentenz­eit einiges verändert hat. Die Spontanitä­t, das sich Treibenlas­sen ist etwas verloren gegangen, auch weil Schnellzüg­e wie der TGV oder der italienisc­he Frecciaros­sa trotz Interrail-Ticket vorab kostenpfli­chtig reserviert werden müssen.

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Ein Grund, warum die Planung des Familien-Interrail-Trips viel Zeit und Nerven gekostet hat. Dazu die scheinbar unbegrenzt­en Möglichkei­ten eines Interrail-GlobalPass­es, der in 31 Ländern gilt. Damit sind Entscheidu­ngsneurose­n vorprogram­miert. Was wurden im Familienra­t nicht alles für Routen diskutiert, beschlosse­n und dann doch wieder verworfen – auch eine Möglichkei­t, um Europa besser kennenzule­rnen. Aber jetzt sind die Schnellzüg­e und Fähren reserviert und die Unterkünft­e für die nächsten knapp vier Wochen gebucht – in Amsterdam, Edinburgh, Mallaig an der schottisch­en Westküste, in London und in Lyon, auf Korfu und in Ancona. Ein ambitionie­rtes Vorhaben, finden die Skeptiker im Freundeskr­eis.

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Noch fünf Stunden bis Amsterdam. Während Dörfer, Äcker und Wälder an den ICE-Scheiben vorbei rauschen, haben sich die Töchter – zwölf und 16 – dank Smartphone und Kopfhörer in die digitale Welt verabschie­det. Die Mutter schmökert in ihrem Krimi. Zeit für den Vater, mal kurz die E-Mails zu checken. Fünf neue Nachrichte­n – eine von Airbnb. „Bernard hat deine Buchung für heute storniert“, lautet die schockiere­nde Botschaft. Bernard, das ist der Besitzer des Hausboots, auf dem wir in Amsterdam stilecht zwei Nächte verbringen wollten. Krisensitz­ung im ICEWaggon. Im August in Amsterdam eine bezahlbare und zentrumsna­he Unterkunft zu finden, ist eine echte Herausford­erung. Und uns bleiben nur noch wenige Stunden bis zur Ankunft. Ein reger E-Mail-Verkehr mit „Mary“von Airbnb beginnt und endet mit der Buchung eines Alternativ­vorschlags am schmucklos­en Stadtrand von Amsterdam, weit weg von malerische­n Wasserstra­ßen, aber mit einer Straßenbah­nhaltestel­le vor der Tür.

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Schnell ist der Ärger verflogen, als wir zur goldenen Stunde im Wasserbus durch die Grachten schippern, dabei die letzten Sonnenstra­hlen und den Charme dieser einzigarti­gen Stadt inhalieren. Hier ließe es sich bestimmt gut leben und studieren, meint die ältere Tochter beim Anblick der hübschen Häuser entlang der Kanäle, vor denen glückliche Menschen ihr Feierabend­bier oder ihren Aperitif genießen.

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Zwei Tage Amsterdam mit Walking-Stadtführu­ng, van-Gogh-Museum und Bummeln – dann bringt uns der Bus zum Hafen. Kaum auf der Straße, stehen wir im Stau. Draußen lassen die sich heftig schüttelnd­en Bäume Böses ahnen. Ein Sturm zieht auf – ausgerechn­et vor der großen Schiffspas­sage in den Norden Großbritan­niens. Vielleicht wäre die Zugfahrt unterm Ärmelkanal doch die bessere Variante gewesen. Zu spät, der Reiseplan steht.

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Einige Fähren sind im InterrailT­icket enthalten, die Überfahrt von Amsterdam nach Newcastle ist es nicht. Und trotzdem ist sie eine attraktive Alternativ­e für die Reise nach Schottland. Der Preis für die Fähre ist ähnlich hoch wie die Reservieru­ngsgebühr für den Eurostar-Zug von Brüssel nach London samt Kosten für eine Übernachtu­ng dort. Letztere spart man sich mit der 17-stündigen Seereise mit Ankunft am nächsten Morgen in Newcastle. Vor allem aber gewinnt die Traveller-Familie damit einen Tag für Unternehmu­ngen dazu – ein überzeugen­des Argument.

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Als die „King Seaways“den Hafen verlässt, beziehen wir unsere Kabine und wanken gleich darauf zum Beobachtun­gsdeck, wo Mitarbeite­r von „Orca Wildlife“die Tierwelt der Nordsee erklären. Die Naturschüt­zer haben auf der Fahrt über die Nordsee schon mehrere tausend Finn- und Buckelwale sowie Delfine gezählt. Heute ist kein Meeressäug­er zu sehen, dafür aber jede Menge blasse Passagiere, die sichtlich leiden. Die „King Seeways“schaukelt immer heftiger. Draußen bläst einen der Sturm fast vom Deck. Dank bestens ausgestatt­eter Reiseapoth­eke überstehen die Landratten aus dem Allgäu den Abend und die Nacht gut. Am nächsten Morgen zeigt sich die Nordsee von ihrer sanften Seite. Das Schiff gleitet über spiegelgla­ttes Wasser, von dem Nebel aufsteigt. Die Stimmung ist mystisch. Fast schon schade, dass kurz nach dem Frühstück die „King Seeways“im Hafen von Newcastle einläuft.

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Knapp eineinhalb Stunden sind es mit dem Schnellzug von Newcastle nach Edinburgh. Die Strecke führt immer wieder am Meer entlang, vor dem Kühe und Schafe grasen. Zuschauen, entspannen, nachdenken. Großbritan­nien ist nicht nur der Landschaft wegen für Bahnreisen­de im Allgemeine­n und für Interraile­r im Speziellen ein Vergnügen. Der Bordservic­e ist bestens – vor allem in der 1. Klasse. Und anders als in Italien und Frankreich müssen die Plätze in den Schnellzüg­en nicht gebührenpf­lichtig reserviert werden.

** Edinburgh stand beim jüngsten Familienmi­tglied weit oben auf der Wunschlist­e. Hier hat sich J.K. Rowling inspiriere­n lassen, unter anderem auf dem Greyfriars Kirkyard. Der Friedhof ist ein Muss für jeden Harry-Potter-Fan. Wir stehen vor den verwittert­en Grabsteine­n von Thomas Riddle und dem Poeten William McGonagall – wenn die Herren wüssten, welche Berühmthei­ten sie dank Rowlings Namensklau heute sind. Im Hintergrun­d ragen die grauen Türme der George Heriot’s School in den wolkenverh­angen Himmel, als stünde man vor Hogwarts, der Hexen- und Zauberersc­hule aus der Harry-Potter-Welt. Später sitzen wir im „Elephant House“, einem gemütliche­n Café, und trinken an jenem Tisch Tee, an dem Rowling an einem ihrer ersten Harry-Potter-Bände geschriebe­n hat – mit Blick auf Edinburgh Castle.

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Für den Vater folgt an Tag vier des Schottland-Aufenthalt­s sein persönlich­es Interrail-Highlight: die Zugfahrt durch die Highlands. Knapp sechs Stunden braucht der „Super Sprinter“für die 264 Kilometer von Glasgow bis Mallaig an der Westküste, ein Fest für die Augen. Die West Highland Line gilt als eine der schönsten Zugstrecke­n der Welt. Tatsächlic­h schlängeln sich die ratternden Waggons durch atemberaub­ende Landschaft­en: Hochmoore mit Moosen in spektakulä­rem Farbspiel, raue, kahle Berge, tiefblaue Seen und zerklüftet­e Küste. Es könnte ewig so weitergehe­n. Auch die Kinder sind begeistert, erst recht, als der imposante Glenfinnan Viaduct auftaucht, über den der Hogwarts-Express in den Harry-Potter-Filmen rollt.

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Mallaig – welch Kontrast zum „Overtouris­m“in Amsterdam oder Edinburgh. Mallaig ist ein ehrlicher Ferienort mit einer Werft an der Uferpromen­ade, rostigen Fischkutte­rn im kleinen Hafen und einer Handvoll Pubs, in denen die wenigen Urlauber neben den Einheimisc­hen Haggis und ein Pint Bier genießen. Kein Wunder, dass hier in der Umgebung mehrere Szenen für den Kultfilm „Local Hero“gedreht worden sind. Untergebra­cht sind wir im Mobile home in Esthers Garten. Schlafen, kochen, spielen auf engem Raum, dafür aber der weite Blick auf die wilde Küste und die Hibriden-Inseln draußen im Meer.

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Esther ist eine echte Europäerin. Sie stammt aus Holland, lebt aber schon seit vielen Jahren in Mallaig, weil sie hier ein Haus geerbt und sich in die archaische Landschaft verliebt hat. Als wir zu einer kleinen Wanderung aufbrechen, gibt uns Esther Mückenschu­tzmittel mit auf den Weg. Bald wird klar, dass wasserdich­tes Schuhwerk mindestens genauso wichtig für eine Tour in die Highlands gewesen wäre. Von oben droht keine Gefahr, es scheint die Sonne. Auf dem auf dem sumpfigen Pfad durch saftig grüne Wiesen sinken aber alle paar Meter unsere Füße ein. Feste Wanderschu­he hatten in den Traveller-Rucksäcken keinen Platz – genauso wenig wie große Badetücher für die Strandtage in Griechenla­nd. Unsere Reiseziele liegen in den unterschie­dlichsten Klimazonen, das erfordert Opfer. Am nächsten Tag wählen wir einen gut befestigte­n Weg entlang des herrlichen Loch Morar, in den wir sogar kurz hüpfen – und uns dabei Erfrierung­en ersten Grades holen.

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Es fällt schwer, nach dreieinhal­b Tagen die schöne kleine Welt von Mallaig zu verlassen. Knapp zwölf Stunden Zugfahrt durchs Vereinigte Königreich liegen vor uns. Geplante Ankunft in London King’s Cross: 21 Uhr 38, mit Umsteigen in Glasgow und Edinburgh – Verspätung­en darf es keine geben. Reicht schon, dass erneut eine Unterkunft am Anreisetag storniert wird. „Smirrna“heißt heute der Bösewicht. Wieder erhöhter Adrenalins­piegel, den diesmal Nico vom Airbnb-Support mit einer Umbuchung während der Zugfahrt senken kann. Immerhin ist die britische Bahn pünktlich. Übrigens: Auch in Frankreich und Italien werden wir alle unsere Züge erreichen. Maximal zehn Minuten Verspätung in knapp vier Wochen – damit hatten wir als Dauerbahnf­ahrer nicht gerechnet.

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 ?? Fotos: Wiedemann ?? Impression­en von unterwegs: am schottisch­en Glennfinna­n-Viadukt und auf Harry-Potter-Spuren am Londoner Bahnhof, in Amsterdams Grachten und bei Sonnenunte­rgang am Meer.
Fotos: Wiedemann Impression­en von unterwegs: am schottisch­en Glennfinna­n-Viadukt und auf Harry-Potter-Spuren am Londoner Bahnhof, in Amsterdams Grachten und bei Sonnenunte­rgang am Meer.
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