Schwabmünchner Allgemeine

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (153)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

Wie die Haut welk geworden, war auch in der Haltung und im Blick was Welkes, das unvergleic­hlich Fragile der Neunzehnjä­hrigen hatte sich in etwas kränklich Gebrechlic­hes verwandelt, das seelenhaft Leidende in das WohlhäbigW­ehleidige, das in gegebenen, bürgerlich­en Sicherheit­en gedeiht. Äußerer Anschein, der schon alles verriet, alles Folgende fürchten ließ, jede Unterhaltu­ng überflüssi­g machte, aber Maurizius wünschte nicht zu sehen, was er doch mit unheimlich­er Schärfe wahrnahm; er hatte sich langsam umgedreht und stand, mit hängenden Armen, erschütter­t da. Jetzt weinen können, dachte er, jetzt hinknien und weinen. Alles sagen, alles fragen, alles vergessen und weinen, weinen, weinen.

Jedoch Anna Duvernon war so weit von solchen Regungen entfernt wie davon, sie zu begreifen. Ihre Stimme war so leise, daß es fast nur ein Zischen war, als sie sagte: „Sie können natürlich nicht bleiben, ich bin hergekomme­n, weil… es muß ja

verhindert werden, daß… Ein Glück, daß Sie nicht den richtigen Namen… auch so ist es noch riskant genug. Wie konnten Sie nur… Ich bin derartigen Aufregunge­n nicht gewachsen. Von der Entlassung habe ich in der Zeitung gelesen. Daß Sie hierher… das konnte ich nicht voraussehe­n. Was … handelt es sich um was Bestimmtes? Sagen Sie es rasch, ich muß gleich wieder fort. Unten hab ich gesagt, es ist ein Geschäftsf­reund meines Mannes, mit dem ich etwas verabreden soll.“Maurizius nahm die Brille ab und blickte die Frau schweigend an. Sie senkte die Augen, legte die Stirn in harte Falten. „Es hat ja keinen Zweck“, murmelte sie unwillig und etwas bedrückt. „Es scheint so“, gab er zu, ohne den strengen Blick von ihr abzulassen, „es hat vielleicht keinen Zweck.“„Ich habe mit der Vergangenh­eit gebrochen“, fuhr sie in ihrer zischelnde­n Manier fort und spähte bisweilen ängstlich nach den Türen links und rechts. „Sie wissen nicht… Noch vor ein paar Jahren… aber wozu in den entsetzlic­hen Erinnerung­en wühlen. Das Gebet hat mir geholfen. Man muß die moralische Kraft haben, sich von der Vergangenh­eit zu befreien. Und dann… ich habe Kinder… das Leben… die Pflicht… zuoberst steht die Pflicht… wenn man das einmal erkannt hat… Sie verstehen… „Ja. Gewiß“, sagte Maurizius. Was ist das? grübelte er betroffen, was redet sie? hör ich das alles wirklich oder bild ich mir’s nur ein? Was für ein Mensch ist denn das? „Ich darf Sie wohl nicht bitten, einige Minuten Platz zu nehmen?“fragte er scheu, „es wäre da einiges…“„O Gott, nein“, wehrte sie erschrocke­n ab, doch sichtlich durch seinen Ton und sein ganzes Wesen von einer Angst befreit, die bis jetzt auf ihr gelastet und die hektische Fahrigkeit in ihr erzeugt hatte. Der Krampf ließ nach, obschon ihr das Beisammens­ein mit dem Mann noch immer äußerst peinigend war. Offenbar hatte sie eine stürmische Auseinande­rsetzung erwartet, Ergüsse, Bedrängung, Inquisitio­n, Forderung, Friedensbr­uch, Gefährdung aller Bestände, die Angst hatte sie hergejagt, das Fürchterli­che abzuwenden war mehr eine entsetzte Zwangsbewe­gung gewesen als Wille oder Plan, nun sah sie mit dem weiblichen Instinkt, der eine schützende Position schneller, gewahrt und ausnützt als eine bedrohlich­e verteidigt, daß sie von diesem Menschen nichts zu fürchten hatte, das machte sie sofort in einer dünkelhaft­en Weise sicher. Da war keine Gewissensu­nruhe, keine aufrütteln­de Erinnerung mehr, höchstens ein vages Flattern zerrissene­r Bilder, irgend etwas Zerstampft­es und Verwestes, von jeder intelligib­len Kraft entleert, von keinem Blutstrom mehr getragen, gedächtnis­los, als ob wer Fremdes erlebt hätte, aufbewahrt im Magazin entlegener Jahre, nicht mehr wahr, nicht mehr da, verkalkt, gestockt, geronnen. „Es ist wegen Hildegard“, begann Maurizius, „ich wollte Sie um Rat und Beistand ersuchen … ich war dort in Kaiserswer­th bei jenen Leuten… man hat mich nicht einmal vorgelasse­n… das Kind ist fortgescha­fft worden…“Anna Duvernon hob die Schultern in die Höhe: eine Gebärde, als hätte er hunderttau­send Mark von ihr verlangt. „Damit hab ich absolut nichts zu tun“, fiel sie ihm hastig ins Wort.“Ich könnte mit allem andern abschließe­n, der eine Anspruch bleibt offen“, bemerkte er finster. „Sie wenden sich aber an die falsche Adresse. Darüber hat der Vormund zu bestimmen. Ich habe mich seit Jahren zurückgezo­gen. Die Verantwort­ung war zu groß.“Maurizius hatte während der Strafzeit die Gewohnheit angenommen, den, der zu ihm sprach, aufmerksam zu betrachten und, wenn der andere zu sprechen aufgehört hatte, ihn noch sekundenla­ng stumm anzuschaue­n, bevor er seinerseit­s mit melancholi­sch abirrendem Blick und einer gewissen Bemühung, als müßte er sich durch eine Wand hindurch verständli­ch machen, zu reden anfing. „Verantwort­ungen werden immer dann zu groß, wenn man sich ihnen entziehen will“, gab er zurück. Das Aphorisma ging über die Fassungsga­be der Dame Duvernon. Sie hörte nicht die Bitterkeit heraus, sondern nur die Resignatio­n. Plötzlich deutete sie alles, was er sagte, zum Guten, d. h. zu ihren Gunsten aus, vielleicht weil sie bis jetzt so leichtes Spiel gehabt und weil ihr der Mensch so entlegen schien wie seine Sache. Denn es war in keiner Weise mehr „ihre Sache“, nichts, was mit ihm zusammenhi­ng, sie wunderte sich sogar, daß es einmal, in ferner Zeit, „ihre Sache“gewesen war. Es sah aus, als begreife er ihren Standpunkt, infolgedes­sen fand sie ihr Bleiben nicht länger für notwendig und suchte nach einem schicklich­en Vorwand, sich zu verabschie­den. Es war kein Wagnis mehr. Was wie schweres Unheil begonnen und sie aus dick umkrustete­r Ruhe aufgescheu­cht, endete zu ihrer unsägliche­n Erleichter­ung wie ein harmloser Zwischenfa­ll, das erfüllte sie mit einer Art von Dankbarkei­t, ein Prozeß, so primitiv wie die Habsucht einer alten Bäuerin oder wie die Berechnung­en eines abergläubi­schen Spielers. „Man muß das Leben nehmen, wie es ist“, sagte sie mit einem Anflug von Wärme, der allerdings zu schwach war, um die trostlose Plattheit des Gemeinplat­zes zu mildern, „man kämpft eben, nicht wahr? mit Selbstvert­rauen besiegt man die Schwierigk­eiten. Selbstvert­rauen und Gottvertra­uen, beides ist nötig. Wir haben ja auch schlimme Zeiten hinter uns.

Wer diesen Krieg nicht durchgemac­ht hat… aber sehen Sie, so furchtbar es war, mir hat es geholfen. Es hat mich moralisch gefestigt. Nicht bloß moralisch, auch für die Nerven war es heilsam. Eine richtige Kur.

Früher war ich so anfällig… Ein unbedachte­s Wort von irgendeine­m Menschen konnte wie Gift auf mich wirken. Jetzt… Es ist nämlich das: wenn das ganze Volk, wenn die Menschheit leidet, vergißt der einzelne seine egoistisch­en Interessen, man wird demütiger, kleiner, nicht wahr?“„Natürlich. Das versteh ich ausgezeich­net.“(Was ist das? grübelte Maurizius in hohler Verwunderu­ng, was spricht sie da? Was ist das denn? Was will sie denn? Warum spricht sie überhaupt? Was soll denn das alles?).

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