Schwabmünchner Allgemeine

Mit Kurs auf Downing Street

Porträt Jeremy Hunt will nächster Premiermin­ister in Großbritan­nien werden. Er setzt sich bewusst vom schillernd­en Boris Johnson ab

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Da stand also dieser höfliche, mitunter langweilig wirkende Jeremy Hunt hinter seinem Pult und verglich tatsächlic­h die Zustände in der EU mit jenen der früheren Sowjetunio­n. Vor ihm hunderte Parteimitg­lieder im Publikum. Sie taten, was sie meistens tun, wenn Minister in Richtung Brüssel schießen: Sie klatschten eifrig Beifall. „Die Lektion aus der Geschichte ist klar“, dozierte da der amtierende Außenminis­ter: „Wenn Sie den EU-Klub in ein Gefängnis verwandeln, wird das Verlangen, herauszuko­mmen, nicht nachlassen, sondern wachsen, und wir werden nicht der einzige Gefangene sein, der es verlassen will.“Es war im Herbst vergangene­n Jahres und das große Schaulaufe­n für mögliche Nachfolger der damals schon angezählte­n Premiermin­isterin Theresa May hatte längst begonnen. Hunt

wollte herausstec­hen aus der Masse. Spuren hinterlass­en. Das scheint im britischen Polittheat­er nur noch mit besonders skandalöse­n Aussagen zu gehen. Also lieferte er.

Sein diplomatis­cher Fehlgriff hat ihm nicht geschadet. Jetzt schaffte es Jeremy Hunt in die Stichwahl um den Parteivors­itz. Mit seinem Kontrahent­en, dem extroverti­erten Haudegen Boris Johnson, kann Hunt sich in Sachen Entertainm­ent zwar keineswegs messen. Das will er aber auch nicht. Vielmehr dürfte es sein Ziel sein, sich als der vernünftig­e, seriöse und zuverlässi­ge Kandidat zu stilisiere­n.

Wobei: Der 52-jährige Hunt hat mit Blick auf die EU bereits mehrere Sinneswand­el vollzogen. Als „Windbeutel“wurde er kürzlich bezeichnet. Vor drei Jahren noch warb er im europafreu­ndlichen Lager für den Verbleib in der Staatengem­einschaft. Mittlerwei­le hat er sich zum Brexit-Befürworte­r gewandelt, echauffier­te sich etwa über die „Arroganz der EU“.

Der mit einer Chinesin verheirate­te Vater eines Sohnes und zweier Töchter ist ein Paradebeis­piel für das britische Establishm­ent. Er stammt aus wohlhabend­em Hause, besuchte eine angesehene Schule, studierte danach Philosophi­e, Politikwis­senschaft und Wirtschaft an der Elite-Universitä­t Oxford. Er arbeitete als Unternehme­r und Englischle­hrer in Japan, bevor er 2005 ins Parlament einzog. Dort machte er schnell Karriere – auch aufgrund seiner Verbindung­en zum damaligen Parteivors­itzenden David Cameron, den er aus UniZeiten in Oxford kennt.

Nachdem die Konservati­ven 2010 an die Macht kamen, wurde Hunt zunächst Kultur-, Sport- und Medienmini­ster und hatte damit eine Schlüsselr­olle im Vorfeld der Olympische­n Spiele inne. Der damalige Bürgermeis­ter Londons hieß im Übrigen Boris Johnson. Noch im selben Jahr wurde Hunt zum Gesundheit­sminister befördert. Er sollte es so lange auf diesem als Schleuders­itz geltenden Posten aushalten wie keiner seiner Vorgänger in der Nachkriegs­zeit. Nun muss Hunt die europaskep­tische Parteibasi­s überzeugen, mit ganzem Herzen ein Brexiteer zu sein. Das dürfte eine Herkulesau­fgabe werden.

Katrin Pribyl

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Foto: afp Foto: AFP

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