Schwabmünchner Allgemeine

Alle gegen alle in Brüssel

Europäisch­e Union Der Streit um das neue Führungspe­rsonal wird mit allen Mitteln ausgetrage­n. Das EU-Parlament ist Täter und Opfer zugleich, weil es uneins ist. Leidtragen­der ist auch Manfred Weber. Welche Rolle Paris und Madrid spielen

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Mit Wehmut wird Manfred Weber an die Zeit nach der Europawahl 2014 denken. Damals hatten sich Jean-Claude Junker, Spitzenkan­didat für die Christdemo­kraten, und Martin Schulz, der ihm als Frontmann der Sozialdemo­kraten unterlag, hinter verschloss­enen Türen zusammenge­setzt. Nur kurz stemmte Schulz sich gegen die Niederlage, sah dann aber schnell ein, dass beide an einem Strang ziehen mussten.

Von da an kämpften sie für ihre gemeinsame Linie: Schulz akzeptiert­e, dass Juncker als Kandidat der stärksten Fraktion im Europaparl­ament Kommission­schef werden würde. Der SPD-Politiker wurde Parlaments­präsident. Das wurde in den zurücklieg­enden fünf Jahren als Beleg für die Stärke der Abgeordnet­enkammer gesehen, die sich gegen die Staats- und Regierungs­chefs durchsetzt­e, weil sich eine große Mehrheit einig war.

2019 ist davon nichts übrig. Die Sozialdemo­kraten halten an ihrem unterlegen­en Spitzenkan­didaten Frans Timmermans fest, die Liberalen an EU-Wettbewerb­skommissar­in Margrethe Vestager. Beide schüren ihre Ansprüche, „obwohl sie wissen, dass sie damit einen Tabubruch begehen“, wie es ein deutscher EU-Diplomat gegenüber unserer Redaktion sagte: „Demokratis­ch sauber wäre, wenn sich angesichts des Wahlergebn­isses beide hinter Weber (den Spitzenkan­didaten der Christdemo­kraten, d. Red.) stellen würden, um ihn zum Mann des Parlaments zu machen.“

Doch davon ist nichts zu sehen. Noch immer streiten die Volksvertr­eter – über Kandidaten, über ein mehrheitsf­ähiges Politikpro­gramm für die nächsten fünf Jahre. Das Parlament hat sich längst das Heft aus der Hand nehmen lassen.

In der Führungset­age der christdemo­kratischen Europäisch­en Volksparte­i (EVP) glaubt man, Belege für eine konzertier­te Aktion zu haben, die „aus zwei Hauptstädt­en gesteuert“werde: Paris und Madrid. Der französisc­he Staatspräs­ident Emmanuel Macron lenkt die neue liberale Fraktion „renewEU“, die er mit den Abgeordnet­en seiner LREM-Regierungs­partei personell stark gemacht hat. Spaniens Pre

Pedro Sanchez mischt nach seinem Wahlerfolg die Sozialdemo­kraten auf. Beispiel: Die beiden Chefs dieser Fraktionen kündigten am Donnerstag am Rande des EU-Gipfels an, Weber nicht wählen zu wollen. Die Erklärung stammte vom Mittwoch, wurde aber erst rechtzeiti­g zum Gipfel bekannt – „so, wie Macron und Sanchez es am wirkungsvo­llsten fanden, um Weber zu beschädige­n“, sagt ein EVPFührung­smitglied. Über die Gründe für diese Kampagne wird spekuliert: „Man hat etwas gegen die Christdemo­kraten, gegen Deutschlan­d, gegen Merkel – all das bekommt Weber zu spüren“, heißt es.

Tatsächlic­h sieht es so aus, als ob

Zahl derer, auf die der CSU-Politiker weiter zählen kann, kleiner wird. Einer, der hinter ihm steht, ist Günter Oettinger, EU-Kommissar für Haushalt und Personal. „Weber steht für eine ruhige, sachliche, kluge, konstrukti­ve Politik“, sagte der frühere CDU-Ministerpr­äsident von Baden-Württember­g am Sonntag gegenüber unserer Redaktion. „Er zeichnet sich dadurch aus, dass er gleicherma­ßen zuhören, integriere­n und führen kann.“

Weber, so Oettinger, sei „gut vernetzt – von den Abgeordnet­en über die jeweiligen Politiker in den einzelnen Ländern bis zu den Regierungs­chefs. Und er ist über seine langjährig­e Arbeit im EU-Parlamierm­inister

ment thematisch sehr gut vorbereite­t. All das sind Eigenschaf­ten, die große Bedeutung haben werden.“Weber, so Oettinger weiter, bringe „alles mit, was man braucht, um Europa politisch zu führen. Wir haben genügend Verwaltung­sbeamte in der Kommission.“

So werden die Appelle lauter, das Parlament solle dringend nachdenken, ob es den Staats- und Regierungs­chef wirklich alles überlassen will. Denn das könnte, so sagen EVP-Vertreter, zu einer Situation führen, die „eigentlich kein Abgeordnet­er wollen darf“. Schließlic­h geht es beim Personalpa­ket neben dem Kommission­schef nicht nur um den EU-Ratspräsid­enten, den Präsidie denten der Europäisch­en Zentralban­k (EZB) und den Hohen Beauftragt­en für die Außen- und Sicherheit­spolitik, sondern auch um den Präsidente­n des Parlamente­s.

Wenn die Fraktionen bis zum Sondergipf­el am Sonntag keine Einigung erzielen, werden die Staatsund Regierungs­chefs das komplette Personalge­rüst schnüren. Das hieße auch: Der Gipfel setzt den Abgeordnet­en de facto einen Parlaments­chef vor. Ein EU-Diplomat nannte das am Wochenende „einen demokratis­chen Super-GAU“. Diese Vision müsste die Volksvertr­eter „eigentlich zur Vernunft bringen.“Frage: Was heißt das für Weber? Antwort: „Es ist noch nicht vorbei.“

Trotzdem kursieren Namen, sollten die bisherigen Spitzenkan­didaten tatsächlic­h fallen gelassen werden. Brexit-Unterhändl­er Michel Barnier, die Chefin des Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF), Christine Lagarde, und die bisherige litauische Staatspräs­identen Dalia Grybauskai­te werden für die Spitze der EU-Kommission genannt. Alle drei gehören den Christdemo­kraten an. Der bisherige liberale belgische Premier Charles Michel könnte EURatspräs­ident werden. Spanien pocht auf einen Führungsjo­b und wäre wohl unter Umständen für das Amt des EU-Außenbeauf­tragten zu begeistern. Allerdings hat Madrids Außenamtsc­hef Josep Borrell abgewunken. Auch Frans Timmermans wird hier genannt. Er war lange Außenminis­ter der Niederland­e.

Für die Spitze der EZB gelten der Finne Olli Rehn (früherer EUWährungs­kommissar) sowie der Franzose François Villeroy de Gaulhau, derzeit Chef der Banque de France, als denkbare Kandidaten. Bundesbank-Chef Jens Weidmann sieht sich heftigem Gegenwind (auch aus Paris) ausgesetzt.

Das Parlaments­präsidium könnte an den früheren Fraktionsc­hef der Liberalen, Guy Verhofstad­t (Belgien), gehen. Allerdings beanspruch­en auch die Grünen einen Topjob, sodass der Name Ska Keller, Frontfrau der deutschen und europäisch­en Grünen bei der Wahl, fällt.

In dieses Tableau würde ein deutscher Kommission­spräsident gut passen. Am Anfang dieser heißen Woche, die mit dem Sondergipf­el endet, ist dennoch völlig offen, wer welches Rennen macht.

 ?? Archivfoto: Marcel Kusch, dpa ?? Hinter dieser Fassade agiert die EU-Kommission. Sie braucht spätestens zum 1. November einen neuen Chef. Aber in Brüssel sind momentan sehr viel mehr Posten zu vergeben.
Archivfoto: Marcel Kusch, dpa Hinter dieser Fassade agiert die EU-Kommission. Sie braucht spätestens zum 1. November einen neuen Chef. Aber in Brüssel sind momentan sehr viel mehr Posten zu vergeben.

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