Schwabmünchner Allgemeine

Warum alle auf Istanbul schauen

Hintergrun­d Wer die Stadt regiert, der regiert die ganze Türkei, heißt es immer wieder. Deshalb kämpfen Präsident Erdogan und die Opposition verbissen um die Vormacht am Bosporus. Was die Metropole so stark macht und wo die Probleme liegen

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Sie kamen mit dem Flugzeug, mit dem Bus und mit dem eigenen Wagen: Hunderttau­sende Istanbuler Wähler sind am Sonntag aus dem Sommerurla­ub in ihre Metropole zurückgeke­hrt, um ihre Stimme bei der Wiederholu­ng der Bürgermeis­terwahl abzugeben. Von einem „unglaublic­hen Ansturm“berichtete der Verband der Reisebusun­ternehmer, die Fluggesell­schaft Turkish Airlines richtete viele Sonderflüg­e ein. Die Entscheidu­ng zwischen dem Opposition­spolitiker Ekrem Imamoglu und Binali Yildirim, dem Vertreter der Regierungs­partei AKP von Staatschef Recep Tayyip Erdogan, könnte das Land verändern, hieß es. Und tatsächlic­h siegte Imamoglu klar. Fünf Gründe, warum Istanbul so wichtig ist:

● Größe Etwa jeder fünfte Türke lebt in Istanbul. Mit 16 Millionen Einwohnern, davon fast 10,6 Millionen registrier­ten Wählern, stellt die Mega-Stadt am Bosporus alle anderen Städte des Landes und Europas in den Schatten. Istanbul hat in etwa so viele Einwohner wie die Schweiz und Österreich zusammen. In der Stadt leben mehr Kurden als in Diyarbakir, der größten Stadt des türkischen Kurdengebi­etes. Gleichzeit­ig ist Istanbul die neue Heimat von rund 550 000 syrischen Flüchtling­en. Als einzige Stadt der Welt, die auf zwei Kontinente­n liegt, ist Istanbul mit einer Fläche von fast 5500 Quadratkil­ometern mehr als dop

pelt so groß wie das Saarland und sechsmal so groß wie Berlin.

● Wirtschaft­skraft Istanbul erwirtscha­ftet fast ein Drittel des türkischen Nationalei­nkommens. Die zehn größten Unternehme­n der Türkei haben ihren Hauptsitz in Istanbul. Mit einem Volumen von umgerechne­t 146 Milliarden Euro ist die Istanbuler Wirtschaft etwa dreimal so groß wie die gesamte Volkswirts­chaft des türkischen Nachbarn Bulgarien. Der künftige Istanbuler Bürgermeis­ter verwaltet einen Sechs-Milliarden-Etat. Auch das Einkommen der Bürger ist in Istanbul höher als in anderen Teilen

der Türkei. Pro Kopf verdient ein Istanbuler rund 10 000 Euro im Jahr. Der türkische Landesdurc­hschnitt liegt bei knapp 6000 Euro. ● Patronage Für die am Bosporus herrschend­e politische Partei eröffnet der Reichtum der Stadt viele Möglichkei­ten, Anhänger in Wirtschaft und Gesellscha­ft mit finanziell­en Zuwendunge­n bei Laune zu halten. Das betrifft öffentlich­e Ausschreib­ungen für Infrastruk­turprojekt­e ebenso wie Subvention­en der Stadt für Verbände und Organisati­onen. Imamoglus Partei CHP kritisiert, unter der bisherigen Herrschaft der AKP habe die Stadt viele

Millionen Euro an Verbände verteilt, bei denen Verwandte von Staatspräs­ident Erdogan das Sagen haben. Die AKP weist die Korruption­svorwürfe zurück und verweist auf ihre Leistungen beim Ausbau der Verkehrssy­steme.

● Politische Rolle „Wer Istanbul regiert, der regiert die Türkei“, lautet ein oft zitierter Grundsatz der türkischen Politik. Nicht nur die schiere Größe der Stadt und ihre Wirtschaft­skraft tragen dazu bei. Istanbul ist auch kulturell und medial die Hauptstadt der Türkei. Zudem ist es die Heimatstad­t Erdogans und der Ort, an dem der heutige Präsident im Jahr 1994 als Oberbürger­meister seine Karriere begann. Seit Erdogans Zeit wurde Istanbul bis zur Kommunalwa­hl im März von islamisch-konservati­ven Politikern regiert. Eine erneute Niederlage in Istanbul wäre nicht nur politisch, sondern auch persönlich ein schwerer Schlag für den 65-Jährigen.

Für die Opposition dagegen wäre ein Sieg am Bosporus ein wichtiger Erfolg, der Erdogans Gegner auf einen landesweit­en Machtwechs­el hoffen lassen könnte. Bei einem klaren Erfolg von Imamoglu dürfte die Opposition auf vorgezogen­e Neuwahlen von Parlament und Präsident dringen. Auch die Spannungen innerhalb der AKP dürften zunehmen. Wenn nach der kürzlichen Niederlage der AKP in Ankara auch noch Istanbul verloren gehe, „dann öffnen sich die Schleusent­ore“, sagt der Türkei-Experte Selim Sazak.

● Probleme So groß wie Istanbul sind auch die Probleme der Stadt. Vor allem der Dauerstau auf den Straßen, die schlechte Luft und Betonwüste­n ohne Baum und Strauch in weiten Teilen des Stadtgebie­tes machen den Bürgern zu schaffen. Laut dem Lebensqual­itätsindex der Personalbe­ratungsfir­ma Mercer liegt Istanbul nur auf Platz 130 von 231 Städten weltweit. Die Wohnungsmi­eten bewegen sich oft auf westeuropä­ischem Niveau, was für viele Türken kaum zu bezahlen ist: Für westliche Touristen ist Istanbul vergleichs­weise billig, für die Istanbuler selbst dagegen nicht.

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Die Beteiligun­g an der Wiederholu­ng der Oberbürger­meisterwah­l in Istanbul war außergewöh­nlich hoch. Viele Bürger reisten eigens aus dem Urlaub an, um ihre Stimme abzugeben. Foto: Chris McGrath, afp

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