Schwabmünchner Allgemeine

„Vertrauen und Entsetzen waren immens“

Kriminalit­ät Die Festnahme eines 37-jährigen Logopäden, der in Würzburg mehrere Buben missbrauch­t haben soll, stürzte hunderte Eltern in die Ungewisshe­it, ob auch ihr Kind zu den Opfern zählt. Wie geht die Polizei mit so einer Situation um?

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Würzburg Ein Logopäde soll in Würzburg mehrere Buben im Kindergart­enalter missbrauch­t und dabei gefilmt haben. Wie viele genau, ist unklar – eine Situation, die hunderte Eltern in Ungewisshe­it stürzte und die Polizei zu einem Spagat zwingt. Ein Gespräch mit dem Leiter der eingesetzt­en Sonderkomm­ission, Armin Kühnert, und der Beauftragt­en der Polizei für Kriminalit­ätsopfer, Mona Lier.

Nach dem Bekanntwer­den des Missbrauch­s war die Polizei einerseits auf Tipps der Eltern angewiesen, anderersei­ts mussten Sie Menschen an die Hand nehmen, die Hilfe brauchten, mussten unangenehm­e Wahrheiten vermitteln. Wie schafft man das? Mona Lier: Vertraulic­hkeit, also ein geschlosse­ner Rahmen, war wichtig, um gerade den Eltern das Gefühl zu vermitteln: Da sitzen nur Eltern, die alle in derselben Situation sind wie man selbst.

Armin Kühnert: Es war für uns wichtig, gleich von Beginn an als Ansprechpa­rtner zur Verfügung zu stehen. Die Stimmung, die da herrschte, war ja auch für uns etwas Außergewöh­nliches. Das hatte auch ich in dem Ausmaß noch nicht erlebt: Große Hilflosigk­eit von Eltern, die am Boden zerstört sind, stellenwei­se Wut.

Wie gingen Sie bei den Informatio­nsveransta­ltungen vor, die Sie für die betroffene­n Eltern organisier­t haben? Kühnert: Wir lieferten – so weit es ging – erste Informatio­nen zu drängenden Fragen, zum Beispiel zum Stand der Ermittlung­en. Ganz wichtig war, dass uns die Stadt Würzburg, Fachstelle­n und die Kinderund Jugendpsyc­hiatrie sofort unterstütz­ten. Die können bei vielen auftauchen­den Fragen viel kompetente­r antworten, wenn Eltern fragen: Wie soll ich mich jetzt verhalten?

Und was wurde geraten?

Kühnert: Da hat beispielsw­eise Professor Marcel Romanus von der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie geraten: Kinder nicht gezielt fragen, aber aufschreib­en, wenn sie was sagen. Das war sehr hilfreich.

Herr Kühnert, wo lag für Sie als Soko-Leiter die Schwierigk­eit, so viele Infos wie möglich zu geben, ohne mehr preiszugeb­en als nötig?

Kühnert: Die Hürde, die ich nehmen musste, war der Spagat, zum einen

ausreichen­de Informatio­nen zu liefern, zum anderen auf das laufende Ermittlung­sverfahren Rücksicht zu nehmen. Wir haben das dann so gehalten, dass ich dargestell­t habe: Was kommt auf die Eltern zu? Der Schutz der Kinder ist ganz wichtig, deshalb haben wir betont: Sie können ruhig anrufen. Wir gehen nicht auf die Kinder zu, sondern erst mal auf die Eltern.

Haben Sie den Eltern die Filmsequen­zen und Bilder des Missbrauch­s gezeigt?

Kühnert: Das dürfen wir gar nicht. Wir zeigen Ausschnitt­e, zum Beispiel von Kleidungss­tücken, Möbeln oder dem Umfeld. Und ganz am Anfang haben wir den Eltern gesagt, dass wir eventuell Bilder von ihren Kindern für Vergleichs­zwecke benötigen. Wir haben ihnen transparen­t gemacht, dass wir anhand dieser Bilder die Identifizi­erung von

oder Tatorten ermögliche­n wollen und dass auf diese Weise gegebenenf­alls auch Kinder als Opfer ausgeschlo­ssen werden können.

Unter Betroffene­n kursierte die Erzählung, manche Eltern hätten gezielt darauf bestanden, komplette kinderporn­ografische Sequenzen über ihre Kinder zu sehen zu bekommen. Kühnert: Das Ansinnen war da. Wir haben aber klargemach­t, dass auch wir Kinderporn­ografie nicht verbreiten dürfen. Wenn sie darauf bestanden haben, hat man ihnen den Weg der Nebenklage aufgezeigt – denn wenn sie geschädigt sind, kann ein Anwalt Akteneinsi­cht nehmen. Das wurde auch so akzeptiert. Mona Lier

Hatten Sie auch Begegnunge­n mit Eltern, die wütend auf die Polizei waren, wegen des Verdachts gegen den Logopäden? Der Beschuldig­te genoss großes Vertrauen.

Kühnert: Das Vertrauen und das Entsetzen waren immens, das hat sich durchgezog­en wie ein roter Faden. Es gab aber keine Vorwürfe gegenüber der Polizei, weil ich letztendli­ch auch deutlich gemacht habe: Es werden alle möglichen Fakten gesammelt, um ein Bild von dem Tatgescheh­en zu bekommen, das der Wahrheit nahekommt. Die Eltern haben auch jederzeit akzeptiert, wenn ich gesagt habe: Darüber kann und darf ich zurzeit nichts sagen. Das war eine sehr offene UnterhalOp­fern Armin Kühnert tung. Ich habe nie eine negative Reaktion bekommen.

Wie haben Sie die besonders schweren Missbrauch­sfälle von den weniger schweren unterschie­den?

Kühnert: Wir haben einen Fragenkata­log für die Kollegen vorbereite­t und die Fälle in Gefährdung­sgruppen eingeteilt: A, B, C. Wo wir von einer großen Gefährdung ausgehen mussten, haben wir die Eltern zuerst angesproch­en. Dabei haben wir schon Opfer identifizi­eren können, weil zwei betroffene Eltern nach der Veranstalt­ung gezielt über das Hinweistel­efon bei uns angerufen haben. Die haben wir – teils mehrfach – aufgesucht. Da war auch großer Betreuungs­bedarf.

Und wenn anhand von Fotos ein Tatort identifizi­ert wurde?

Kühnert: Wenn es etwa eine Kita war, haben wir es ans Jugendamt weitergege­ben. Dann ist extra eine Veranstalt­ung gemacht worden, zu der alle Eltern eingeladen wurden, auch das Kita-Personal. Die Personalie­n der Opfer haben wir natürlich nie genannt, aber das waren schon emotionale Veranstalt­ungen, bei denen auch gegenseiti­g Vorwürfe kamen. Da wurde seitens einer Fachstelle schon mal deutlich gemacht, dass eigentlich alle getäuscht wurden und auf irgendeine­r Weise Opfer sind. Es war wichtig, dass man die Aussprache zulässt, weil ja die Emotionen da sind. Die Verhandlun­gsgruppe konnte immer wieder Beistand leisten. Es war wichtig, dass das in geordneten Bahnen abgelaufen ist.

Viele Ihrer Ermittler sind selbst Eltern. Wie geht es denen denn, wenn Sie Eltern befragen oder von einer Mutter plötzlich hören: Das ist mein Kind, ich habe es erkannt.

Kühnert: Es ist fast noch schlimmer als die Überbringu­ng einer Todesnachr­icht. Das nimmt hier und da dann mehrere Stunden in Anspruch. Wir hatten auch einzelne Fälle, in denen die Eltern danach die Ermittler immer und immer wieder angerufen haben, weil sie nicht damit fertig geworden sind. Eine Mutter hat sogar bei mir angerufen und gesagt: Wenn ich nachts zu Bett gehe, dann dreht sich das Karussell in meinem Kopf. Da wird dann auch deutlich, dass die Betreuungs­leistung nicht mit der Überbringu­ng der Nachricht beendet ist.

Interview: Manfred Schweidler

 ??  ?? Unter Verschluss: Im Würzburger Missbrauch­sfall musste die Polizei außergewöh­nlich offensiv an die Öffentlich­keit gehen, um weitere Opfer zu identifizi­eren. Eine Ausnahmesi­tuation sowohl für die Ermittler als auch die Eltern. Foto: Daniel Karmann, dpa
Unter Verschluss: Im Würzburger Missbrauch­sfall musste die Polizei außergewöh­nlich offensiv an die Öffentlich­keit gehen, um weitere Opfer zu identifizi­eren. Eine Ausnahmesi­tuation sowohl für die Ermittler als auch die Eltern. Foto: Daniel Karmann, dpa
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