Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (154)
Nun muß ich gehen. Habe mich ohnehin schon verspätet. Wir haben Gäste… Leben Sie wohl.“Zögerndes Heben der Hand. Maurizius schien es nicht zu sehen. Er verbeugte sich pagodenhaft. Worauf Anna Duvernon hinzufügen zu sollen glaubte: „Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute und Schöne.“Das war nun doch wie ein Stoß ins Genick. Alles Gute und Schöne, prächtig, prächtig, wo befinden wir uns eigentlich, hochgesinnte Gönnerin? Seine Stimme sagte in tonlosem Hohn: „Ich danke Ihnen.“Da war sie fort.
Alleingeblieben drückt Maurizius beide Hände mit verflochtenen Fingern an die Stirn. So steht er eine Weile starr. Barmherziger Himmel, fährt es ihm durch den Kopf, sie ist ja dumm! schlechtweg dumm. Abgründig dumm. Schönheit, Seele (oder was Seele zu sein schien), Anmut, Reiz, dämonische Verdunkelung, Leidenschaft und Leidensfähigkeit, alles nur mit dünnem Pinsel aufgetragene Deckfarbe, die Jahre
haben sie weggewaschen und den kahlen Urgrund bloßgelegt, die Natur hat ihre eigene Lüge enthüllt, nichts von Herz, keine Schicksalsdurchdringung, kein Strahl aus höherer Welt, nur Papeterie, nur Attrappe, nur dumm, dumm wie die Stehngebliebenen, wie die vielen Gestorbenen des Lebens, die den eigenen Geistes- und Herzenstod nicht erkennen, dumm wie ein Gespenst… Und weswegen alles! deswegen! barmherziger Gott, deswegen Opferung und Martyrium, deswegen Marter und Zermalmung, deswegen neunzehn Jahre Grab… Er legt sich bäuchlings auf den Bretterboden, ganz flach, auch das Gesicht preßt er hin. Über der linken Braue spürt er kühl den Kopf eines Nagels. Es ist eine Wollust, den kühlen eisernen Nagel zu fühlen, es wäre angenehm, wenn sich der Nagel im Holz umdrehte und sich mit der Spitze in sein Gehirn bohrte.
Die Zeit, wohltätig verdeckend oder grausam entblößend, hat eine souveräne Manier, was dem menschlichen Auge als unlösliche Verstrickung und geheimnisvolle Tiefe erscheint, in der Kümmerlichkeit der richtigen Maße und Bezüge aufzuzeigen. Die ursprüngliche Simplizität der Dinge wird, bei Klärung des trüben Gegenwartswesens, nur von der Simplizität der Schicksale übertroffen. Daran ändert auch die Wortzauberei eines Waremme nichts. Die sich vor Gott zu rechtfertigen oder ihre verworrenen Wege zu kommentieren wähnen, indem sie das Einfache der Welt in ein grandioses Mysterium umdichten, die sind die wahren Verdammten, denn sie können vor sich selber nicht gerettet werden. Im Fall der Anna Jahn-Duvernon ist freilich eines in Betracht zu ziehen. In ihr war offenbar das Wunder der Jugend zu einer solchen Herrlichkeit erblüht, daß es wie ein großes Kunstwerk vielerlei Deutungen zuließ, vielerlei Gestaltungen annahm und für jeden wirklich zu sein schien, was er darin suchte oder hineinlegte. Dann übten die Jahre ihre Zerstörung aus, was übrigblieb, war die Wunderlosigkeit, Asche in gewissem Sinn, Gestorbenes, doch ein Weib, nicht schlechter als tausend andre und wohl auch nicht dümmer als tausend andre.
Er bricht wieder auf von Echternach. Er nimmt am Bahnhofsschalter eine Karte nach Mainz. Er übernachtet dort und fährt am andern Tag nach Basel. Er wohnt in einem Zimmer, das Ausblick auf den Rhein gewährt. Der Strom erscheint ihm nun wie ein Unglückszeuge, der ihn beharrlich verfolgt; er packt eilig und fährt nach Zürich, Er kauft Bücher in einer Buchhandlung, ist aber zu unstet, sie zu lesen. Er mietet ein Motorboot und fährt auf den See, es ist ihm zu eng, zu klein, zu gedrängt. Er spricht mit dem Portier, mit dem Zimmermädchen, mit dem Kellner, mit irgendeinem Gast, das heißt er drischt leeres Stroh.
Er sieht interessant aus, hat gute Haltung, ist gut angezogen, man schließt auf einen Gelehrten, einen Schriftsteller, man beachtet ihn, manche suchen Anknüpfung, aber das ernste, fast finstere Gesicht mit der dunklen Brille bildet ein unübersteigliches Hindernis. Am liebsten spricht er mit Kindern, auf öffentlichen Plätzen, wo Kinder spielen, setzt er sich bisweilen auf eine Bank und wartet, bis eines sich ihm nähert, dann redet er es in zärtlichem Ton und mit leiser Stimme an, stellt Fragen, streicht ihm vorsichtig über die Haare, aber in der Regel nimmt er dann wahr, daß die Erwachsenen mißtrauisch werden, da erhebt er sich und geht davon. In manchen Stunden wird ihm der Lärm der Stadt zur Tortur, in manchen wieder beruhigt es ihn, wenn er halb getrieben sich durch Menschenmassen bewegt. Stampfen und Rattern von Maschinen erträgt er leichter als Glockengeläut, Stimmengetöse zieht er dem Klang einer einzelnen Stimme vor. Die einzelne Stimme zwingt ihn zur Aufmerksamkeit, die Aufmerksamkeit spannt nach und nach seine Kopfnerven zum Zerreißen. Des Nachts liegt er meistens schlaflos, doch sind es nicht böse Gedanken, die ihn wachhalten, es ist ein Zustand Sichselbst-nicht-Spürens, Sich-selbstnicht-Besitzens, der ihn in eine lethargische Verwunderung versetzt, so daß er das Gefühl hat, das sei bereits Schlaf und zum richtigen Schlaf dürfe es nicht kommen, damit er sich nicht noch mehr entgleite. Er befühlt dann Teile seines Körpers mit der Hand, Schenkel, Arme, Hüften, und das tut ihm gut, so ist er wenigstens dieser Teile gewiß. Die Betten sind ihm zu weich, er kann sich lange nicht an das flaumige Versinken gewöhnen, häufig schlägt er das Lager auf dem Sofa auf und hüllt sich in die Reisedecke, um Rauhes am Leib zu spüren. Manchmal denkt er an Arbeit, aber wozu soll er arbeiten, was könnte es fruchten. Es ist alles so folgenlos. Es ist keine Verbindung da. Er gehört nicht dazu. Nicht nur folgenlos ist, was er tut und beginnt, sondern zugleich in einer aufreibenden Weise widerruflich. Ob er links oder rechts in eine Straße biegt, ob er englische oder ägyptische Zigaretten kauft, ob er anordnet, daß man um sechs oder um acht Uhr früh an seine Tür klopfe, ob er gelbe oder schwarze Schuhe anzieht, ob er dreihundert oder tausend Franken auf der Bank verlangt: es ist sofort in der aufreibendsten Weise widerruflich. Er könnte immer auch das andere tun, das Gegenteil, das Nebendran. Nichts ist wichtig. Alles kann im selben Augenblick zurückgenommen werden, ohne Bedauern, ohne Folge.
Nun verhält es sich ja so, daß die Gnade, überhaupt die Möglichkeit des Lebens in der Widerruflichkeit besteht. Ihm aber wurde, in der Blüte der Existenz, das Gefühl der Widerruflichkeit geraubt, unwiderruflich ist er verdammt worden, unwiderruflich hat er die Strafe verbüßt, unwiderruflich soll er weiterleben, das ist aber nicht möglich; unter dem Druck des Unwiderruflichen kann man nicht leben, daher erzwingt sein Wille die kleinen, gemeinen, zerstückten, das Lebensgesetz aufhebenden Widerruflichkeiten, rachsüchtige Reaktion der Natur. So wird er ein Losgelassener, ein Gesetzloser, vogelfrei vor dem eigenen Bewußtsein.