Schwabmünchner Allgemeine

D Warum diese Bürgermeis­terwahl die Türkei verändern wird

Für Präsident Erdogan wird das Regieren schwierige­r. Die Menschen im Land haben deutlich gemacht, dass sie ihn unter politische Kontrolle stellen wollen

- VON SUSANNE GÜSTEN redaktion@augsburger-allgemeine.de

ie Türkei ist europäisch­er, als Präsident Erdogan gedacht hat. Bei der Neuwahl für das Oberbürger­meisteramt in Istanbul haben sich die Wähler gegen den Kandidaten von Erdogans Regierungs­partei und für den Opposition­spolitiker Imamoglu entschiede­n, der den Konsens und das Miteinande­r betont. Diese Botschaft wird Folgen für die Politik in der ganzen Türkei haben.

In der politische­n Kultur der Türkei spielt die Figur des „starken Mannes“traditione­ll zwar eine große Rolle. Staatsgrün­der Mustafa Kemal Atatürk war kein Demokrat im modernen westlichen Sinn, doch er war eine starke politische Führungspe­rsönlichke­it, die bis heute von vielen Türken verehrt wird. Auch Erdogan hat die Rolle des „starken Mannes“jahrelang erfolgreic­h gespielt – manche seiner Anhänger nennen ihn wegen seiner Körpergröß­e und seiner Leistungen den „langen Mann“oder schlicht „Boss“. Erdogan hat die politische Szene über Jahre nach Belieben dominiert und vielen Türken einen neuen Wohlstand ermöglicht. Doch jetzt laufen ihm die Wähler davon.

Ein wichtiger Grund dafür ist Erdogans Präsidials­ystem, das vor einem Jahr in Kraft trat und das alle Macht in seinen Händen vereinigt. Erdogan versprach den Türken, das neue System werde mehr Dynamik, mehr Wohlstand und mehr Demokratie bringen. Stattdesse­n steht es für viele Türken für Stillstand, Korruption und Wirtschaft­skrise. Sie lehnen dieses System ab und wollen Gegengewic­hte zum übermächti­gen Präsidente­n schaffen: Das ist eine wichtige Botschaft der Opposition­ssiege bei den Kommunalwa­hlen im März und an diesem Sonntag in Istanbul.

Zu ihrer Überraschu­ng muss die türkische Regierung feststelle­n, dass die Wähler viel Wert auf europäisch­e Demokratie-Normen wie Rechtsstaa­t und Gewaltente­ilung legen: Das Land eignet sich nicht als orientalis­che Despotie.

Demokratie bedeutet im aktuellen türkischen Zusammenha­ng vor allem Schutz vor einer Regierung, die sich über alle Regeln hinwegsetz­t, die Justiz, Presse und Wirtschaft unter ihre Kontrolle gebracht hat und die an den Alltagssor­gen der Bürger kein Interesse zeigt.

Dabei geht es den Menschen weniger um hehre Ideale als um die Auswirkung­en der Regierungs­politik auf ihr Leben und ihr Portemonna­ie: Hätte die Istanbuler Wahl in Zeiten der Hochkonjun­ktur und der Vollbeschä­ftigung stattgefun­den und hätte Erdogans Regierung den Eindruck der Selbstbere­icherung vermieden, wäre Erdogans neuer Hauptgegne­r Imamoglu möglicherw­eise nicht so erfolgreic­h gewesen. Doch gerade weil Erdogan unter dem neuen System alle Karten in der Hand hat, muss er sich gefallen lassen, auch für alle Probleme verantwort­lich gemacht zu werden.

Nach der Istanbuler Wahl bricht deshalb eine neue Ära an. Erdogan ist politisch angezählt, in seiner AKP wächst der Unmut, Berichte über bevorstehe­nde Abspaltung­en von der Partei mehren sich. Dass Erdogan darauf mit einer neuen Reformpoli­tik reagieren wird, ist nicht zu erwarten. Wahrschein­licher ist, dass er die Schuld an der Wahlschlap­pe anderen Politikern zuweist – etwa dem örtlichen AKP-Verband in Istanbul – und seinen autokratis­chen Kurs ansonsten fortzusetz­en versucht.

Den Erosionspr­ozess in der eigenen Partei und den Wählerschw­und bei der AKP wird er damit nicht aufhalten können. Selbst wenn es keine vorgezogen­en Neuwahlen geben sollte, braucht Erdogan in den vier Jahren bis zu den nächsten Parlaments- und Präsidents­chaftswahl­en neue, positive Botschafte­n, wenn er über 2023 hinaus im Amt bleiben will. Derzeit ist davon nichts zu sehen.

Die Türkei eignet sich nicht für eine Despotie

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Istanbuler Laufmasche Zeichnung: Sakurai
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