D Warum diese Bürgermeisterwahl die Türkei verändern wird
Für Präsident Erdogan wird das Regieren schwieriger. Die Menschen im Land haben deutlich gemacht, dass sie ihn unter politische Kontrolle stellen wollen
ie Türkei ist europäischer, als Präsident Erdogan gedacht hat. Bei der Neuwahl für das Oberbürgermeisteramt in Istanbul haben sich die Wähler gegen den Kandidaten von Erdogans Regierungspartei und für den Oppositionspolitiker Imamoglu entschieden, der den Konsens und das Miteinander betont. Diese Botschaft wird Folgen für die Politik in der ganzen Türkei haben.
In der politischen Kultur der Türkei spielt die Figur des „starken Mannes“traditionell zwar eine große Rolle. Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk war kein Demokrat im modernen westlichen Sinn, doch er war eine starke politische Führungspersönlichkeit, die bis heute von vielen Türken verehrt wird. Auch Erdogan hat die Rolle des „starken Mannes“jahrelang erfolgreich gespielt – manche seiner Anhänger nennen ihn wegen seiner Körpergröße und seiner Leistungen den „langen Mann“oder schlicht „Boss“. Erdogan hat die politische Szene über Jahre nach Belieben dominiert und vielen Türken einen neuen Wohlstand ermöglicht. Doch jetzt laufen ihm die Wähler davon.
Ein wichtiger Grund dafür ist Erdogans Präsidialsystem, das vor einem Jahr in Kraft trat und das alle Macht in seinen Händen vereinigt. Erdogan versprach den Türken, das neue System werde mehr Dynamik, mehr Wohlstand und mehr Demokratie bringen. Stattdessen steht es für viele Türken für Stillstand, Korruption und Wirtschaftskrise. Sie lehnen dieses System ab und wollen Gegengewichte zum übermächtigen Präsidenten schaffen: Das ist eine wichtige Botschaft der Oppositionssiege bei den Kommunalwahlen im März und an diesem Sonntag in Istanbul.
Zu ihrer Überraschung muss die türkische Regierung feststellen, dass die Wähler viel Wert auf europäische Demokratie-Normen wie Rechtsstaat und Gewaltenteilung legen: Das Land eignet sich nicht als orientalische Despotie.
Demokratie bedeutet im aktuellen türkischen Zusammenhang vor allem Schutz vor einer Regierung, die sich über alle Regeln hinwegsetzt, die Justiz, Presse und Wirtschaft unter ihre Kontrolle gebracht hat und die an den Alltagssorgen der Bürger kein Interesse zeigt.
Dabei geht es den Menschen weniger um hehre Ideale als um die Auswirkungen der Regierungspolitik auf ihr Leben und ihr Portemonnaie: Hätte die Istanbuler Wahl in Zeiten der Hochkonjunktur und der Vollbeschäftigung stattgefunden und hätte Erdogans Regierung den Eindruck der Selbstbereicherung vermieden, wäre Erdogans neuer Hauptgegner Imamoglu möglicherweise nicht so erfolgreich gewesen. Doch gerade weil Erdogan unter dem neuen System alle Karten in der Hand hat, muss er sich gefallen lassen, auch für alle Probleme verantwortlich gemacht zu werden.
Nach der Istanbuler Wahl bricht deshalb eine neue Ära an. Erdogan ist politisch angezählt, in seiner AKP wächst der Unmut, Berichte über bevorstehende Abspaltungen von der Partei mehren sich. Dass Erdogan darauf mit einer neuen Reformpolitik reagieren wird, ist nicht zu erwarten. Wahrscheinlicher ist, dass er die Schuld an der Wahlschlappe anderen Politikern zuweist – etwa dem örtlichen AKP-Verband in Istanbul – und seinen autokratischen Kurs ansonsten fortzusetzen versucht.
Den Erosionsprozess in der eigenen Partei und den Wählerschwund bei der AKP wird er damit nicht aufhalten können. Selbst wenn es keine vorgezogenen Neuwahlen geben sollte, braucht Erdogan in den vier Jahren bis zu den nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen neue, positive Botschaften, wenn er über 2023 hinaus im Amt bleiben will. Derzeit ist davon nichts zu sehen.
Die Türkei eignet sich nicht für eine Despotie