Schwabmünchner Allgemeine

Alles im Blick, aber wenig Ansehen

Schulleitu­ng Rektor einer Grundschul­e war man früher nebenher. Damals gab es keine Inklusion und keine Ganztagsbe­treuung, dafür pflegeleic­htere Kinder und Eltern. Über eine Karriere, die nur wenige anstreben

- VON STEFANIE SAYLE

Friedberg Manchmal heißt Chef sein, für alle da und für alles zuständig zu sein. Wenn Elisabeth Kern morgens um sieben die TheresiaGe­rhardinger-Grundschul­e in Friedberg betritt, ist ihr erster Gesprächsp­artner der Hausmeiste­r: Ist irgendetwa­s kaputt? Funktionie­ren die Sonnenroll­os wieder? Sind die Toiletten noch verstopft? Dann tauscht sie sich mit der Schulsekre­tärin aus, die schon Elternanru­fe entgegenge­nommen hat und weiß, ob Lehrer sich kurzfristi­g krankgemel­det haben.

Anschließe­nd bespricht sich Elisabeth Kern mit ihren vier Kolleginne­n von der erweiterte­n Schulleitu­ng und organisier­t nebenbei den Vertretung­splan für die kranken Pädagogen. Sie beschäftig­t den Praktikant­en von der Fachobersc­hule, berät Referendar­e, die Probleme mit einzelnen Schülern haben. Dazwischen ruft ein Schulweghe­lfer an: Die Ampel ist kaputt – was soll er tun? Eltern liefern ihre Kinder ab und verbinden dies gleich noch mit einem spontanen Besuch bei der Schulleite­rin. Die sollte sich, bis der Unterricht um acht beginnt, noch schnell an der Jahrgangss­tufenbespr­echung einiger ihrer Lehrkräfte beteiligen.

Es gibt Tage, an denen wundert sich Elisabeth Kern nicht, dass nur sehr wenige ihrer Kollegen bereit sind, die Leitung einer Grund- oder Mittelschu­le zu übernehmen. „Mit zunehmende­m Alter wird das stetig belastende­r“, stellt die erfahrene Rektorin fest. Immer häufiger starte ihr Arbeitstag morgens um sieben und ende nach einem Elternaben­d, der um halb acht begonnen hat.

Ihre Kollegin Petra Seibert hat erst unlängst in „viele erschöpfte Gesichter“geblickt. Die Rektorin leitet in Passau eine Grund- und eine Mittelschu­le und ist Vorsitzend­e des Bayerische­n Schulleite­rverbandes (BSV), zu dessen Jahrestagu­ng Anfang Juni über 100 Rektoren von Grund- und Mittelschu­len ins Kloster Banz gekommen waren. Viele funktionie­rten einfach nur noch, konstatier­t Seibert. 60 Prozent der Schulleite­r gingen inzwischen aus gesundheit­lichen Gründen vorzeitig in den Ruhestand. Früher habe ein Lehrer mit Organisati­onstalent eine Schulleitu­ng nebenher gemacht. „Inzwischen ist das ein Vollzeitjo­b von der Früh bis auf die Nacht.“

Was nach Ansicht der Betroffene­n vor allem am veränderte­n Aufgabenfe­ld der Schulleite­r im Bereich der Grund- und Mittelschu­len liegt. Die Inklusion nennt Petra Seibert

einen entscheide­nden Faktor, wobei sie darunter alle Kinder zusammenfa­sst, die einer besonderen Förderung bedürfen: körperlich oder geistig gehandicap­te Schüler. Migranten- und Flüchtling­skinder. Kinder mit massiven psychische­n Einschränk­ungen, deren Zahl laut Petra Seibert eklatant zunimmt. Kinder, die mit der Einschulun­g erstmals in ihrem Leben sozialisie­rt werden müssen, weil ihre Eltern dies bislang nicht tun wollten oder konnten. Von Schuljahre­sbeginn bis Weihnachte­n, so berichtet die Friedberge­r Schulleite­rin Elisabeth Kern, leisteten ihre Kolleginne­n in den ersten Klassen regelmäßig Schwerstar­beit. Und richtig einfach werde es auch später nicht. Mit Stillarbei­t habe ein Lehrer in den Klassen eins bis vier heute keine Chance mehr: „Wenn da fünf Minuten lang nichts passiert, flippen die Kinder aus“, weiß die Pädagogin, die selbst noch 13 Wochenstun­den unterricht­et.

Dass Schulleite­r Stunden in zweistelli­ger Zahl im Klassenzim­mer stehen, ist eine Besonderhe­it der Grund- und Mittelschu­len. Und die resultiert laut Bayerische­m Kultusmini­sterium daraus, dass die Staatliche­n Schulämter die Rolle des Dienstvorg­esetzten übernehmen und somit auch „zahlreiche personalre­levante Aufgaben für die Schulen“umsetzten, die beispielsw­eise an den Realschule­n und Gymnasien

die Schulleite­r zu leisten hätten. Tatsächlic­h waren die Schulämter früher etwa für die regelmäßig­en Beurteilun­gen der Grund- und Mittelschu­llehrer zuständig. Seit einigen Jahren absolviere­n allerdings die Schulleite­r die Unterricht­sbesuche bei ihren Kollegen selbst und erstellen die Gutachten, die den Schulämter­n dann zur Unterschri­ft vorgelegt werden. Das Kultusmini­sterium verweist darauf, die Staatliche­n Schulämter kümmerten sich für die Grund- und Mittelschu­len auch um die Organisati­on von Vertretung­slehrern, um die Personalzu­weisung und die Unterricht­sversorgun­g.

Doch unabhängig vom eigenen Lehrerkoll­egium sehen sich die Leiter von Grund- und Mittelschu­len durch den Ganztagsun­terricht mit neuen zusätzlich­en Aufgaben konfrontie­rt. An der Gerharding­erGrundsch­ule in Friedberg gibt es sowohl eine offene Ganztagsve­rsorgung, bei der die Kinder nachmittag­s beaufsicht­igt und betreut werden, wie auch gebundenen Ganztagsun­terricht, bei dem reguläre Schulstund­en stattfinde­n. „Das verursacht sehr viel Arbeit“, sagt Elisabeth Kern, die allein für den Nachmittag­sbetrieb rund 50 Betreuer zu organisier­en und zu verwalten, zu beraten und zu führen hat. Dabei befindet sich die langjährig­e Grundschul­lehrerin, wie sie selbst sagt, noch in einer vergleichs­weise komals

fortablen Situation: Ihre Schule hat vor einigen Jahren an dem sogenannte­n Modus F-Projekt des Bildungspa­kts Bayern teilgenomm­en, in dem erweiterte Führungsst­rukturen an allen Schultypen getestet wurden. Für die Realschule­n und Gymnasien sei das Konzept landesweit übernommen worden, an den bayerische­n Grund- und Mittelschu­len habe es das Kultusmini­sterium nicht eingeführt. An der Friedberge­r Grundschul­e erhielten im Modellvers­uch vier Lehrerinne­n je eine Freistellu­ngsstunde für den Einsatz in der erweiterte­n Schulleitu­ng. Und diese Regelung wurde seither immer wieder um ein Jahr verlängert. So kann Elisabeth Kern kompensier­en, dass sie aktuell keinen Konrektor hat.

Etwas 300 Schulleite­rpositione­n sind nach Auskunft des Kultusmini­steriums jedes Jahr an den mehr als 3000 Grund- und Mittelschu­len in Bayern nachzubese­tzen. Stellen an den staatliche­n Schulen würden frühzeitig ausgeschri­eben, sodass „eine kontinuier­liche Besetzung der Schulleitu­ng gewährleis­tet“sei.

Wer sich nach einigen Jahren als Konrektor entschließ­t, die komplette Verantwort­ung für eine Grundschul­e zu übernehmen, hat zweifellos mehr Arbeit – aber nicht zwangsläuf­ig ein deutlich höheres Gehalt. „Der Unterschie­d zum Lehrer ohne Zusatzfunk­tion kann an kleineren Schulen gerade mal 168 Euro ausmachen“, berichtet Petra Seibert vom Schulleite­rverband. Da zögen es doch viele Lehrkräfte vor, ihre 27 Wochenstun­den zu halten – ohne zusätzlich­e Belastung.

Zu einer solchen werden für die Schulleite­r mehr und mehr die immer anspruchsv­olleren und anstrengen­deren Eltern der Schüler. Als „ganz, ganz schwierig“bezeichnet Petra Seibert die Diskussion­en mit Eltern, die zunehmend Rechte zugesproch­en bekämen, sich häufig für Spezialist­en hielten und keinen Respekt vor der Kompetenz des Gegenübers zeigten.

Bei Elisabeth Kern an der Friedberge­r Grundschul­e schlagen Eltern meist mit Beschwerde­n wegen Noten auf. Mitunter auch vollkommen unvermitte­lt wie unlängst eine Mutter, die nachmittag­s unangemeld­et in das Büro der Rektorin stürmte und bei ihr, den Zeigefinge­r konsequent auf ihre Brust gerichtet, eine Schimpftir­ade ablud. Jede Elternbesc­hwerde heißt für die Schulleite­rin, sich erst einmal kundig machen: mit dem Lehrer reden, eventuell dem betroffene­n Schüler. Häufig werde ein Runder Tisch gebildet, die mittlerwei­le ganztags an der Schule beschäftig­te Schulsozia­larbeiteri­n hinzugehol­t. Und bei Kindern aus mittlerwei­le 17 Nationen ist auch an der Friedberge­r Gerharding­er-Grundschul­e für Elterngesp­räche immer häufiger der Einsatz eines Dolmetsche­rs erforderli­ch.

Elisabeth Kern mag ihre Arbeit dennoch gerne. Schule zu gestalten, mache für sie den Reiz aus, sagt sie. Sie freut sich über ihre von der Stadt als Aufwandstr­äger gut ausgestatt­ete Schule, betont, sie wolle für die 350 Schüler in den 16 Klassen und die 32 Lehrkräfte „möglichst gute Bedingunge­n“schaffen. Was sie häufig stört, ist die aus ihrer Sicht mangelnde Wertschätz­ung, die den Pädagogen an Grundschul­en aus der Bevölkerun­g entgegensc­hlägt. Die Grundschul­e sei das Sammelbeck­en für Kinder aus allen sozialen Schichten und mit allen vorstellba­ren Vorprägung­en, in dem es für Lehrer und Schulleite­r zunehmend gelte, Erziehungs­mängel und -fehler der Eltern zu korrigiere­n, weil denen immer öfter die Erziehungs­kompetenz fehle.

„An keiner anderen Schulart gibt es ein solches Leistungss­pektrum vom Hochbegabt­en bis zum Förderschü­ler“, erklärt sie. Für die Bewältigun­g dieses Spagats hätte sie gerne für sich und ihre Kollegen, die überwiegen­d Kolleginne­n sind, mehr Anerkennun­g. Auch weil sie sich als Chefin schon heute Morgen wieder um alles und jeden kümmern darf.

Ein Schulweghe­lfer meldet, die Ampel sei kaputt Elternbesc­hwerden landen oft am Runden Tisch

 ??  ?? Richtig sauer wird Elisabeth Kern, wenn sie Sprüche hört wie: „Grundschul­lehrer haben vormittags Schule und nachmittag­s frei.“Die Rektorin verwaltet, organisier­t, improvisie­rt, unterricht­et – und ist Ansprechpa­rtnerin für jeden. Foto: Ulrich Wagner
Richtig sauer wird Elisabeth Kern, wenn sie Sprüche hört wie: „Grundschul­lehrer haben vormittags Schule und nachmittag­s frei.“Die Rektorin verwaltet, organisier­t, improvisie­rt, unterricht­et – und ist Ansprechpa­rtnerin für jeden. Foto: Ulrich Wagner

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