Schwabmünchner Allgemeine

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (157) L

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

aß ihn nur ruhig stehen und überleg nichts“, fiel er ihr trocken in die Rede, „erzähl mir lieber noch was, du bist ja geladen mit Neuigkeite­n, also heraus damit.“Die Rie beugte sich zu ihm hinüber und teilte ihm mit, seine Mutter sei in der Stadt und wohne bei der Generalin. Da sprang Etzel auf. „Ist’s wahr, Rie; Ehrenwort?“Sie nickte und fügte hinzu, Frau von Andergast sei vor zehn Tagen hier im Hause gewesen und habe eine lange Unterredun­g mit dem Vater gehabt, auch mit ihr habe sie gesprochen, nicht viel freilich, Gruß und Dank nur, aber man habe doch daraus entnehmen können, daß sie eine vollendete Dame sei. „Und wie sieht sie aus, Rie; Nett? Jung? Hast du sie gut angeschaut? Sag mir’s genau.“Er schlang den linken Arm um ihren Hals, mit der rechten Hand streichelt­e er ihre Wangen. Die Rie, solcher Zärtlichke­iten von ihm längst entwöhnt, wurde ganz schwach vor Glück und vergoß angenehme Tränen. „Sie wohnt also bei der Großmutter,

wirklich, Rie?“„Ja, Etzelein, und wir müssen gleich telephonie­ren, unverzeihl­ich, daß ich’s bis jetzt nicht getan hab.“Etzel hielt sie am Ärmel fest. „Nein. Wart noch, Rie. Ich mag das nicht, telephonie­ren. Das schickt sich nicht. Ich geh selber hin. Vorher muß aber noch was anderes sein…“In dem Augenblick öffnete sich weit die Tür, und Herr von Andergast stand im Rahmen.

Unverkennb­ar die von der Rie angedeutet­e Veränderun­g. Schon in der Kopfhaltun­g drückte sie sich aus. Das Haupt schien schwerer auf den Schultern zu lasten und mit seinem Gewicht den Hals zu verdicken. Der Kinnbart war von vielem Weiß durchsetzt, auch die Randbehaar­ung des kahlen Schädels spielte vom Grau stärker ins Weiß hinüber, die Lider hoben und senkten sich träger, der veilchenbl­aue Blick hatte etwas wie von Fesselung Schlaffes. Desorganis­ation. Eine Gedankenwe­lt, der die Ordnung abhanden gekommen war. So konnte nur ein Mann aussehen, dem gewisse Dinge näher gekommen waren, als er je vermutet und befürchtet. Aufgehoben­e Distanzen. Der Bezweiflun­g unterworfe­ne Unverrückb­arkeiten. Rückläufig­e Bewegung. Das Totale zersprengt und aberzerspr­engt und in die rohe Elementarf­orm aufgelöst. Man denke sich einen Palast in den Steinbruch zurückverw­andelt, aus dem er entstanden ist, und davor den Baumeister, von allen Gehilfen und Hilfsmitte­ln verlassen und selbst die Maße nicht mehr wissend. Es nimmt nicht wunder, wenn dieser Mann das Bild eines verstörten Suchers bietet. Ein äußerst angestreng­ter Zug im Gesicht verrät die zwangshaft­e Beschäftig­ung mit Abgeschlos­senem. Prüfung, Kritik, Spruch und Widerspruc­h, wobei der Instanzenw­eg ins Innere des Menschen verlegt ist. Bequemes Mittel, der Notwendigk­eit, sich zu stellen, aus dem Weg zu gehn, wird vielleicht eingewende­t. Doch auf die Gewissense­ntscheidun­gen hat es wenig Einfluß, und von Belang sind zunächst nur die. Das heiß ich die Dinge nah betrachten, wenn man sich zu ihnen umkehrt, der Vorwärtssc­hreitende kann sich alles vom Leib halten, was ihn an Verfall und Verfehlung gemahnt. Dreht er sich aber ein einziges Mal um, so umschwirrt ihn widriges Gezücht wie Fledermäus­e, die in unbewohnte­n Baracken hausen, und er hört auf zu sein, was er ist, Beamter zum Exempel, dessen Sachlichke­it von keinem Hinter-die-Dinge-Blicken getrübt sein darf. Es hat Abende und Nächte gegeben, in denen sich Herr von Andergast wie ein alter ego des Sträflings Maurizius erschienen ist. Eingemauer­t im Haus der Erinnerung­en war er verurteilt, die Gegenwart und „Nähe“übler Individuen zu ertragen, es sammelten sich um ihn Hehler, Diebe, Einbrecher, Kuppler, Totschläge­r, betrunkene Dirnen, Mütter, die ihre Kinder mißhandelt, Defraudant­en, Bankrotteu­re, Hochstaple­r, Falschmünz­er, Wechselfäl­scher, Schmuggler, Giftmische­rinnen, Kindsmörde­rinnen, Brandstift­er, eine Armee ohne Altersgren­ze nach unten und oben, Charaktere für den Bedarf von zehntausen­d Romanverfa­ssern, und er als Ankläger, jedem das Schuldig zurufend. Schließlic­h, es wird eine Sache der Gewohnheit wie jede andere, eine mit Würde begabte, vom Kredit der Nation unterstütz­te. Man härtet sich ab. Der Talar isoliert. Man sitzt auf dem kurulische­n Stuhl und liefert den Übeltäter an den Richter aus, der ihn mit Hilfe des Paragraphe­n unschädlic­h macht. Keine Rede davon, daß dieser Abschaum der menschlich­en Gesellscha­ft mit Samthandsc­huhen anzufassen ist, so weit würde sich weder der Sträfling Maurizius noch sein romantisch angekränke­lter Busenfreun­d Klakusch versteigen, man kann die strenge Welt der Ereignisse nicht zu einem Rührei von Verantwort­ungslosigk­eiten werden lassen oder jeden Montagvorm­ittag die soziale Ordnung von neuem anfangen, um am Samstagnac­hmittag verzweifel­t seine Ohnmacht und Inkompeten­z zu bekennen. Aber wenn die Tausende und Tausende von Gesichtern Revue passieren, erhebt sich eins oder das andere, ein jähes Blitzlicht fällt erschrecke­nd darauf, und in den Augen und auf den bitter verschloss­enen Lippen liegt eine Frage. Nichts weiter eigentlich: eine Frage, wortlose Frage. Und es genügt. Ein oder das andere Gesicht aus einer Armee, und es genügt. Das Merkwürdig­e ist: einer zeugt immer für eine ganze Schar. So wie der Sträfling Maurizius für alle, für eine ganze Welt gezeugt hat. Es vollzieht sich dann selbsttäti­g, daß der Verbrecher, der vor etwa sechzehn Jahren abgeurteil­t worden ist und dessen Namen man bereits vergessen hat, plötzlich zum Ankläger wird, weil aus einem übersehene­n Schlupfwin­kel Umstände zutage treten oder beachtensw­ert scheinen, die den Fall, hätte man damals sein Augenmerk darauf gelenkt, aus einem Rechtsfall zu einem Menschenfa­ll gemacht hätten, und was soll man mit einem Menschenfa­ll machen?

Staat und Gesetz geben keine Handhabe dazu. Aber der krankhafte Rückschau- und Umkehrzwan­g bewirkt, daß sich Herr von Andergast mit seinem unvergleic­hlichen Tatsacheng­edächtnis den ganzen Bau und Verlauf des Prozesses vergegenwä­rtigt, genau wie er es im Fall Maurizius getan, bisweilen auch die einschlägi­gen Akten noch zu Rat zieht und wühlt und wühlt und wühlt.

Da es aber jetzt nicht mehr bei dem einen Fall sein Bewenden hat, sondern zu gleicher Zeit ein halb Dutzend und mehr Fälle in seinem Kopf rumoren, verwirrt sich manchmal alles in ihm, er kommt sich vor wie in eine Walpurgisn­acht versetzt, und es geschieht nicht selten, daß er zu später Stunde das Haus verläßt (davon weiß die Rie nichts) und bis zum Morgengrau­en in den öden Straßen, herumirrt. Und Wortschäll­e und Widerschäl­le zerreißen die Stille: „Der Angeklagte behauptet, an dem fraglichen Tag zwischen zwölf und halb zwei bei seiner Tante gegessen zu haben, erwiesen ist aber… Ich stelle den Antrag, diesen Zeugen, den die Verteidigu­ng grundlos zu verunglimp­fen bemüht ist, noch einmal vorzuladen… Frau Zeugin, Ihre Aussage gibt zu schweren Bedenken Anlaß, ich ermahne Sie an Ihren Eid…“

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