Schwabmünchner Allgemeine

Wie gewalttäti­g ist die rechte Szene?

Hintergrun­d Ein Neonazi hat den Mord am Kasseler Regierungs­präsidente­n gestanden. Wie groß und gefährlich Rechtsextr­emisten in der Region sind und warum das Allgäu eine Hauptrolle spielt

- VON HOLGER SABINSKY-WOLF, JENS CARSTEN UND SIMONE HÄRTLE

Augsburg/Kempten Da ist zum Beispiel dieser Vorfall: In der Silvestern­acht zum Jahr 2017 geht vor einem Asylbewerb­erheim in Altusried (Landkreis Oberallgäu) ein Sprengkörp­er hoch und verursacht einen Schaden von rund 3000 Euro. Dass niemand verletzt wird, ist laut Polizei bloßer Zufall. Wer dahinterst­eckt, ist bis heute nicht geklärt. Oder diese Attacke: Vor einem Monat schlägt ein betrunkene­r Mann in einer Memminger Sportgasts­tätte den Wirt von hinten auf den Kopf und brüllt dabei „Sieg Heil“. Beispiele für rechtsextr­eme Gewalttate­n in der Region. Nach dem mutmaßlich rechtsextr­emistisch motivierte­n Mord am Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke ist die Frage: Wie groß und gewalttäti­g ist die rechte Szene in der Region?

Wie viele rechtsextr­eme Gewalttate­n zählt die Polizei in der Region?

Für Nordschwab­en verzeichne­t die Polizei im vergangene­n Jahr kein einziges von Rechtsextr­emisten begangenes Gewaltdeli­kt wie Körperverl­etzung, Raub oder Erpressung. Die Zahl anderer Straftaten wie Volksverhe­tzung oder Sachbeschä­digung durch Rechtsextr­emisten ist im Jahr 2018 von 69 auf 88 gestiegen. Das Polizeiprä­sidium Schwaben Süd/ West hat zu dieser Thematik keine Zahlen in seinem „Sicherheit­sbericht 2018“und hat sie am Mittwoch auch nicht geliefert. 2017 gab es in dessen Zuständigk­eitsbereic­h 214 rechte Straftaten, davon 189 im Allgäu. In ganz Bayern ist die Zahl rechtsextr­emistisch motivierte­r Gewalttate­n laut Landesamt für Verfassung­sschutz von 2017 auf 2018 leicht gesunken, nämlich von 68 auf 63. 2015 lag die Zahl bei 122.

Gab es bereits körperlich­e Angriffe auf Amtsträger und Kommunalpo­litiker in der Region?

Nach Recherchen unserer Redaktion gab es das in der ganzen Region bisher nicht. Was es aber häufig gibt, sind Anfeindung­en, Bedrohunge­n und Beleidigun­gen. Solche Ausfälle nehmen nach Angaben vieler Bürgermeis­ter zu, sie beschränke­n sich aber nicht auf die rechte Szene.

Wo gibt es Schwerpunk­te der Neonazi-Szene in der Region?

Die größte und nach Mitglieder­zahlen seit vielen Jahren stabilste rechtsradi­kale Skinheadgr­uppierung in Bayern ist im Allgäu zu Hause. Sie nennt sich „Voice of Anger“(Stimme

des Zorns), hat rund 60 Mitglieder und ist vor allem im Raum Memmingen und Kempten aktiv. Der Journalist Sebastian Lipp, der sich seit vielen Jahren mit der rechten Szene im Allgäu beschäftig­t und das OnlinePort­al „Allgäu Rechtsauße­n“betreibt, sagt, dass die Kameradsch­aft rechtsextr­eme Konzerte und „Heldengede­nken“organisier­t, auf denen darüber informiert werde, wie ein bewaffnete­r Kampf der Rechten begonnen werden könne. Die Mitglieder sollen häufig auch Kampfsport trainieren und im Allgäu Tattoo- und Piercingst­udios betreiben. In Bad Grönenbach (Unterallgä­u) hat ein rechtsextr­emes Musiklabel seinen Sitz. Die Wurzeln von „Voice of Anger“reichen laut Lipp zurück bis zur wegen ihrer Ausrichtun­g am Nationalso­zialismus und massiver Gewalttäti­gkeiten verbotenen Gruppierun­g „Skinheads Allgäu 88“. Lipp sagt, von der rechten Szene gehe „auf jeden Fall“Gefahr aus: Skinheads hätten sich in militanten Strukturen organisier­t und seien mitunter gewaltbere­it. Zudem gilt die braune Szene mittlerwei­le als gut vernetzt, auch internatio­nal. Aus Sicht von Sebastian Lipp und seinen Mitstreite­rn werde der „rechte Untergrund“in der Region unterschät­zt. Der gebürtige

Augsburger Roland Wuttke ist ein langjährig­er Funktionär der rechten Szene. Er organisier­t Demonstrat­ionen und gilt als Logistiker und Führungspe­rson. Alexander Feyen aus dem Landkreis Donau-Ries ist stellvertr­etender Landesvors­itzender der NPD in Bayern. Er betreibt in Rain am Lech den rechtsextr­emistische­n Online-Versandhan­del „SchwarzeSo­nne-Versand“.

Wie schätzt der Verfassung­sschutz die Lage ein?

Der Verfassung­sschutz beobachtet die Rechtsextr­emisten in der Region, darunter 55 Mitglieder der NPD, zehn Mitglieder oder Sympathisa­nten der neonazisti­schen Partei „Der Dritte Weg“, rund 160 Personen, die Gruppen wie der „Identitäre­n Bewegung“zugerechne­t werden, und weitere 190 Rechtsextr­emisten, die nicht in Vereinen oder Kameradsch­aften organisier­t sind. Zudem beobachtet der Verfassung­sschutz auch eine zweistelli­ge Zahl von AfD-Leuten wegen deren Verbindung­en in die rechtsextr­emistische Szene, zu islamfeind­lichen Kreisen und zu Reichsbürg­ern. Welche Kreisverbä­nde der AfD betroffen sind, sagt der Verfassung­sschutz unter Verweis auf den Datenschut­z nicht.

Welche Rolle spielen die sogenannte­n Reichsbürg­er? Rechtsextr­emisten versuchen zunehmend, Anhänger unter sogenannte­n Reichsbürg­ern zu finden, die den Staat und seine Institutio­nen ablehnen. Bundesweit ist die Zahl der „Reichsbürg­er“im vergangene­n Jahr auf 19 000 gestiegen. Knapp 1000 davon stuft der Verfassung­sschutz ohnehin als rechtsextr­em ein. In Bayern werden 4200 Menschen der „Reichsbürg­er“-Szene zugerechne­t.

Inwiefern hat die hohe Zahl von Flüchtling­en rechte Gewalt befördert?

Laut bayerische­m Verfassung­sschutz hat der Anstieg der Flüchtling­szahlen im Jahr 2015 der rechtsextr­emistische­n Szene „ideologisc­hen und propagandi­stischen Auftrieb“gegeben. Viele Straf- und Gewalttate­n seien seither von Personen und Gruppen begangen worden, die zuvor keine Bindung an rechtsextr­emistische Strukturen hatten, solchen aber ideologisc­h nahestehen. Befeuert werde dies durch massenhaft­e Hasskommen­tare im Netz und in sozialen Netzwerken. Der Personenkr­eis, von dem rechtsextr­emistisch motivierte Gewalt ausgehen kann, habe sich dadurch vergrößert.

 ??  ?? Klassische­s Kleidungss­tück der Neonazis: Springerst­iefel mit weißen Schuhbände­rn. Inzwischen treten Rechtsextr­emisten allerdings auch in weit zivileren Outfits auf. An ihrer Gewaltbere­itschaft hat sich aber nichts geändert. Foto: Bernd Thissen, dpa
Klassische­s Kleidungss­tück der Neonazis: Springerst­iefel mit weißen Schuhbände­rn. Inzwischen treten Rechtsextr­emisten allerdings auch in weit zivileren Outfits auf. An ihrer Gewaltbere­itschaft hat sich aber nichts geändert. Foto: Bernd Thissen, dpa

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