Wie gewalttätig ist die rechte Szene?
Hintergrund Ein Neonazi hat den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten gestanden. Wie groß und gefährlich Rechtsextremisten in der Region sind und warum das Allgäu eine Hauptrolle spielt
Augsburg/Kempten Da ist zum Beispiel dieser Vorfall: In der Silvesternacht zum Jahr 2017 geht vor einem Asylbewerberheim in Altusried (Landkreis Oberallgäu) ein Sprengkörper hoch und verursacht einen Schaden von rund 3000 Euro. Dass niemand verletzt wird, ist laut Polizei bloßer Zufall. Wer dahintersteckt, ist bis heute nicht geklärt. Oder diese Attacke: Vor einem Monat schlägt ein betrunkener Mann in einer Memminger Sportgaststätte den Wirt von hinten auf den Kopf und brüllt dabei „Sieg Heil“. Beispiele für rechtsextreme Gewalttaten in der Region. Nach dem mutmaßlich rechtsextremistisch motivierten Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ist die Frage: Wie groß und gewalttätig ist die rechte Szene in der Region?
Wie viele rechtsextreme Gewalttaten zählt die Polizei in der Region?
Für Nordschwaben verzeichnet die Polizei im vergangenen Jahr kein einziges von Rechtsextremisten begangenes Gewaltdelikt wie Körperverletzung, Raub oder Erpressung. Die Zahl anderer Straftaten wie Volksverhetzung oder Sachbeschädigung durch Rechtsextremisten ist im Jahr 2018 von 69 auf 88 gestiegen. Das Polizeipräsidium Schwaben Süd/ West hat zu dieser Thematik keine Zahlen in seinem „Sicherheitsbericht 2018“und hat sie am Mittwoch auch nicht geliefert. 2017 gab es in dessen Zuständigkeitsbereich 214 rechte Straftaten, davon 189 im Allgäu. In ganz Bayern ist die Zahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten laut Landesamt für Verfassungsschutz von 2017 auf 2018 leicht gesunken, nämlich von 68 auf 63. 2015 lag die Zahl bei 122.
Gab es bereits körperliche Angriffe auf Amtsträger und Kommunalpolitiker in der Region?
Nach Recherchen unserer Redaktion gab es das in der ganzen Region bisher nicht. Was es aber häufig gibt, sind Anfeindungen, Bedrohungen und Beleidigungen. Solche Ausfälle nehmen nach Angaben vieler Bürgermeister zu, sie beschränken sich aber nicht auf die rechte Szene.
Wo gibt es Schwerpunkte der Neonazi-Szene in der Region?
Die größte und nach Mitgliederzahlen seit vielen Jahren stabilste rechtsradikale Skinheadgruppierung in Bayern ist im Allgäu zu Hause. Sie nennt sich „Voice of Anger“(Stimme
des Zorns), hat rund 60 Mitglieder und ist vor allem im Raum Memmingen und Kempten aktiv. Der Journalist Sebastian Lipp, der sich seit vielen Jahren mit der rechten Szene im Allgäu beschäftigt und das OnlinePortal „Allgäu Rechtsaußen“betreibt, sagt, dass die Kameradschaft rechtsextreme Konzerte und „Heldengedenken“organisiert, auf denen darüber informiert werde, wie ein bewaffneter Kampf der Rechten begonnen werden könne. Die Mitglieder sollen häufig auch Kampfsport trainieren und im Allgäu Tattoo- und Piercingstudios betreiben. In Bad Grönenbach (Unterallgäu) hat ein rechtsextremes Musiklabel seinen Sitz. Die Wurzeln von „Voice of Anger“reichen laut Lipp zurück bis zur wegen ihrer Ausrichtung am Nationalsozialismus und massiver Gewalttätigkeiten verbotenen Gruppierung „Skinheads Allgäu 88“. Lipp sagt, von der rechten Szene gehe „auf jeden Fall“Gefahr aus: Skinheads hätten sich in militanten Strukturen organisiert und seien mitunter gewaltbereit. Zudem gilt die braune Szene mittlerweile als gut vernetzt, auch international. Aus Sicht von Sebastian Lipp und seinen Mitstreitern werde der „rechte Untergrund“in der Region unterschätzt. Der gebürtige
Augsburger Roland Wuttke ist ein langjähriger Funktionär der rechten Szene. Er organisiert Demonstrationen und gilt als Logistiker und Führungsperson. Alexander Feyen aus dem Landkreis Donau-Ries ist stellvertretender Landesvorsitzender der NPD in Bayern. Er betreibt in Rain am Lech den rechtsextremistischen Online-Versandhandel „SchwarzeSonne-Versand“.
Wie schätzt der Verfassungsschutz die Lage ein?
Der Verfassungsschutz beobachtet die Rechtsextremisten in der Region, darunter 55 Mitglieder der NPD, zehn Mitglieder oder Sympathisanten der neonazistischen Partei „Der Dritte Weg“, rund 160 Personen, die Gruppen wie der „Identitären Bewegung“zugerechnet werden, und weitere 190 Rechtsextremisten, die nicht in Vereinen oder Kameradschaften organisiert sind. Zudem beobachtet der Verfassungsschutz auch eine zweistellige Zahl von AfD-Leuten wegen deren Verbindungen in die rechtsextremistische Szene, zu islamfeindlichen Kreisen und zu Reichsbürgern. Welche Kreisverbände der AfD betroffen sind, sagt der Verfassungsschutz unter Verweis auf den Datenschutz nicht.
Welche Rolle spielen die sogenannten Reichsbürger? Rechtsextremisten versuchen zunehmend, Anhänger unter sogenannten Reichsbürgern zu finden, die den Staat und seine Institutionen ablehnen. Bundesweit ist die Zahl der „Reichsbürger“im vergangenen Jahr auf 19 000 gestiegen. Knapp 1000 davon stuft der Verfassungsschutz ohnehin als rechtsextrem ein. In Bayern werden 4200 Menschen der „Reichsbürger“-Szene zugerechnet.
Inwiefern hat die hohe Zahl von Flüchtlingen rechte Gewalt befördert?
Laut bayerischem Verfassungsschutz hat der Anstieg der Flüchtlingszahlen im Jahr 2015 der rechtsextremistischen Szene „ideologischen und propagandistischen Auftrieb“gegeben. Viele Straf- und Gewalttaten seien seither von Personen und Gruppen begangen worden, die zuvor keine Bindung an rechtsextremistische Strukturen hatten, solchen aber ideologisch nahestehen. Befeuert werde dies durch massenhafte Hasskommentare im Netz und in sozialen Netzwerken. Der Personenkreis, von dem rechtsextremistisch motivierte Gewalt ausgehen kann, habe sich dadurch vergrößert.