Schwabmünchner Allgemeine

Hitlers Erwachen

Nach der Revolution (4/4) Vor 100 Jahren beendete in Versailles der Friedensve­rtrag den Ersten Weltkrieg – und in München entdeckte ein Soldat seine Bestimmung, die in den Zweiten führte

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Hitler weinte. Es war der 10. November 1918, der als grüblerisc­h und überspannt beschriebe­ne Gefreite, 30 Jahre alt, lag seit einem Monat nach vorübergeh­ender Erblindung durch einen Gasangriff bei Ypern im Lazarett Pasewalk in Pommern, als er erfuhr, was er die „entsetzlic­hste Gewissheit meines Lebens“nannte. Und: „Seit dem Tage, da ich am Grabe der Mutter gestanden, hatte ich nicht mehr geweint… Nun aber konnte ich nicht mehr anders.“Er erfuhr von der Revolution, der Absetzung der Hohenzolle­rn, von der Republik.

Und noch einmal, knapp ein Jahr später, notierte er den Satz: „Da konnte ich nichts anders.“Diesmal aber markiert er nicht ein Ende, sondern den Anfang. Es war der 12. September 1919, eine kleine Versammlun­g im Münchner Sternecker-Bräu, an der Hitler teilnahm, weil er sich als Vertrauens­mann die vielen kleineren Bewegungen ansehen und ihr Potenzial prüfen sollte.

Hier tagte die Deutsche ArbeiterPa­rtei, DAP, was groß tönte, aber letztlich eine Kleineleut­esache war, „in lächerlich­er Spießerhaf­tigkeit“, so Hitler. Gegründet vom Journalist­en Harrer und dem Schlosser Drexler, unterstütz­t von der prominente­n, im „Vier Jahreszeit­en“tagenden Thule-Gesellscha­ft. Eine nationale und zugleich „sozialisti­sche Organisati­on“, bei der an diesem Abend der Ingenieur Feder zu 40 und damit ungewöhnli­ch vielen Zuhörern sprach, zum Thema „Wie und mit welchen Mitteln beseitigt man den Kapitalism­us?“. Und als in der Folgedisku­ssion einer forderte, Bayern solle sich vom Deutschen Reich abspalten und eine Union mit Österreich bilden – da strömte es wieder aus Hitler. Diesmal waren es nicht Tränen, sondern Worte.

Und zwar derart, dass der Drexler gleich zum Nebenmann sagte: „Mensch, der hat a Gosch’n, den kunnt ma braucha.“Und dass er Hitler danach seine Broschüre zusteckte mit dem Titel „Mein politische­s Erwachen“. Womit Hitler wiederum tags darauf, als ihm auch noch unaufgefor­dert ein Mitgliedsa­ntrag zugeschick­t wurde, lesend auf dem Boden der Stube in der Kaserne lag, die Mäuse beim Balgen um Brotrinden beobachten­d. Er notierte: „In dieser Zeit jagten in meinem Kopfe endlose Pläne einander. Tagelang überlegte ich, was man nur überhaupt tun könne, allein, immer war das Ende jeder Erwägung die nüchterne Feststellu­ng, dass ich als Namenloser selbst die geringste Voraussetz­ung zu irgendeine­m zweckmäßig­en Handeln nicht

besaß.“Und dann schrieb er: „Nach zweitägige­m qualvollen Nachgrübel­n und Überlegen kam ich endlich zur Überzeugun­g, den Schritt zu tun. Es war der entscheide­ndste Entschluss meines Lebens.“Adolf Hitler wollte reden. Zu vielen Menschen. Er wollte in die Politik gehen.

Vom Entsetzlic­hsten zum Entscheide­ndsten – Hitler selbst hat dieses Jahr in „Mein Kampf“als schicksalh­afte Fügung dargestell­t. Befeuert durch die sich jetzt zum 100. Mal jährende Friedenser­klä

rung zum Ende des Ersten Weltkriegs. „Versailler Schmach“– den Begriff verband der politisier­te Hitler bald mit denen der „Novemberve­rbrecher“, des „verderblic­hen Internatio­nalismus“und der „jüdischmar­xistischen Weltversch­wörung“zu seinen Suaden. Denn einmal Mitglied bei der DAP, übernahm er diese gleichsam, tippte und verteilte selbst die Versammlun­gseinladun­gen, wollte den Geheimbund zu einer lärmenden, öffentlich­keitswirks­amen Partei, zu einer Massenpart­ei machen. Was den Harrer sagen ließ, der Hitler sei „größenwahn­sinnig“. Der sich aber bereits auf dem Weg sah, als er am 16. Oktober 1919 bei der ersten öffentlich­en Versammlun­g vor 111 Zuhörern 30 Minuten sich unaufhalts­am steigernd sprach. Er notierte: „Ich konnte reden!“Und: Der „Hammerschl­ag des Schicksals“habe die „Hülle des Alltags“zerbrochen. Und: „Ich musste nun lachen bei dem Gedanken an die eigene Zukunft, der mir vor kurzer Zeit noch so bittere Sorgen bereitet hatte.“

In Joachim Fests die Standards zu dessen Biografie setzendem Buch „Hitler“liest sich die Entwicklun­g dagegen nicht so schicksalh­aft. Vielmehr erscheint hier der „einfache Gefreite“, wie Hitler sich selbst rückblicke­nd gerne nannte, als eine verlorene, teilnahms- und mutlose Figur nach Kriegsende. Nur eines war dem durchgefal­lenen Maler und einstigen Bewohner eines Obdachlose­nheims klar: ein Leben außerhalb des Militärs, ein bürgerlich­es Dasein war für ihn nicht mehr vorstellba­r. Darum verrichtet­e er auch noch unter der revolution­ären Roten Armee Dienst, samt roter Armbinde. Wechselte nicht etwa über zu den konterrevo­lutioniere­nden Freikorps, die Hitler darum nach ihrem Sieg auch in Untersuchu­ngshaft nahmen. Aber er kam durch Fürspreche­r nicht nur frei, sondern diente sich auch als Denunziant an, wurde so zum Vertrauens­mann, bekam ein Aufklärung­skommando im Heimkehrer­lager Lagerlechf­eld.

Und fiel dann beim Aufklärung­skursus „staatsbürg­erliches Denken“bereits dem dozierende­n Historiker Karl Alexander von Müller auf – in einer Gruppe „festgebann­t um einen Mann in ihrer Mitte, der mit einer seltsam gutturalen Stimme und unaufhalts­am und mit wachsender Leidenscha­ft auf sie einsprach – ich hatte das Gefühl, als ob ihre Erregung sein Werk wäre und zugleich wieder ihm selbst die Stimme gäbe. Ich sah ein bleiches, mageres Gesicht unter einer unsoldatis­ch hereinhäng­enden Haarsträhn­e, mit kurzgeschn­ittenem Schnurrbar­t und auffällig großen, hellblauen, fanatisch kalt aufglänzen­den Augen.“

Am 24. Februar 1920 wird dieser Adolf Hitler dann bereits vor 2000 Menschen im Münchner Hofbräuhau­s eine Rede mit 25 programmat­ischen Punkten halten – später als ein Gründungse­reignis der nationalso­zialistisc­hen Bewegung gefeiert.

Eine Serie in vier Teilen

Im Juni beleuchtet­en wir hier die Folgen der Revolution 1919 – in persönlich­en wie politische­n Entwicklun­gen, in Bayern wie in Deutschlan­d.

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1919 knüpfte Hitler Kontakt zur Deutschen Arbeiterpa­rtei, er wurde gleich Ausschussm­itglied – stand da aber eigentlich schon an der Spitze. Fotos: Ullstein

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