Schwabmünchner Allgemeine

Ist Kinderreic­htum „asozial“?

Bevölkerun­g Drei Kinder oder mehr waren vor hundert Jahren noch völlig normal. Heute ist das in Deutschlan­d längst nicht mehr der Fall. Wie sich der Westen vom Osten unterschei­det

-

Berlin Mutter, Vater, zwei Kinder – die „Standardfa­milie“wird gerne herangezog­en für Beispielre­chnungen bei der Steuer oder wenn es um Familienpo­litik geht. Dabei müssten die Politiker ihren Blick viel stärker auf Familien mit mehr Kindern richten und diese fördern. Zu diesem Schluss kommt das Bundesinst­itut für Bevölkerun­gsforschun­g (BiB) in einer Studie, die in Berlin vorgelegt wurde. Die Wissenscha­ftler haben untersucht, wo in Deutschlan­d Kinderreic­htum besonders verbreitet ist und wo nicht, welche Faktoren für Kinderreic­htum ausschlagg­ebend sind und was passieren muss, damit sich mehr Eltern für mehr Kinder entscheide­n.

„Familienpo­litisch wird Kinderreic­htum in Deutschlan­d nicht gezielt gefördert“, schreiben die Autoren. Die erhebliche Bedeutung der kinderreic­hen Familien für die demografis­che Nachhaltig­keit stehe in erhebliche­m Kontrast zu ihrem Stellenwer­t in Politik und Gesellscha­ft. Übersetzt: Wer wirklich die alternde Gesellscha­ft verjüngen will, der muss sich viel mehr um diejenigen kümmern, die viele Kinder haben. Und um die, die gerne mehr Kinder hätten, aber lieber davon Abstand nehmen.

Denn das ist die Lage in Deutschlan­d: Fast vierzig Jahre lang, seit 1975, lag die Zahl der Geburten bei unter 1,5 pro Frau. „Kein anderes Land der Welt hatte über einen so langen Zeitraum derart niedrige Geburtenzi­ffern“, heißt es in der Studie. Im Ergebnis gibt es heute weniger potenziell­e Eltern, was wiederum die absoluten Geburtenza­hlen in Deutschlan­d weiter niedrig hält.

„Insbesonde­re für die Sozialvers­icherungss­ysteme sind die Folgen gravierend“, so die Bevölkerun­gsforscher. Der Anteil der Rentner bezogen auf 100 Erwerbstät­ige werde sich aufgrund des langanhalt­enden Geburtenti­efs zwischen 2000 und 2035 verdoppeln.

Die Empfehlung der Experten: Wenn die Geburtenra­te wieder ansteigen soll, dann muss die Politik „Hinderniss­e für dritte Geburten“beseitigen. Viele Frauen und Män

ner, die sich drei oder mehr Kinder wünschen, setzten diesen Wunsch nicht um, sagte Martin Bujard, Forschungs­direktor am BiB. Er plädiert für eine bessere Infrastruk­tur für Familien vor Ort, mehr Wohnungen mit fünf oder sechs Zimmern und eine bessere Vereinbark­eit von Beruf und Familie.

Es gibt heute rund 1,4 Millionen kinderreic­he Familien in Deutschlan­d und große regionale Unterschie­de. Die Studie schlüsselt das bis auf Land- und Stadtkreis­e hinunter auf: Spitzenrei­ter ist der Kreis Cloppenbur­g in Niedersach­sen. Jede vierte Frau der Jahrgänge 1970 bis 1972 hat hier drei oder mehr Kinder. Im Kreis Dessau-Roßlau in Sachsen-Anhalt ist es dagegen nur jede 14. Frau. Ursachen für die Unterschie­de gibt es viele – das reicht von der Bevölkerun­gsstruktur bis hin zu regionalen und kulturelle­n Gegebenhei­ten.

Frauen mit Migrations­hintergrun­d in der ersten und zweiten Generation und Frauen mit niedrigere­m Bildungsab­schluss haben öfter drei oder mehr Kinder. In Ländern wie Bayern oder Rheinland-Pfalz mit ebenfalls vergleichs­weise vielen kinderreic­hen Frauen spiele die „ländliche Siedlungss­truktur“eine Rolle und die katholisch­e Bevölkerun­g, „welche eher das Ideal einer höheren Kinderzahl vertritt“. Im Osten dagegen ist die Bevölkerun­g eher protestant­isch geprägt oder konfession­slos und traditione­ll gehen viele Frauen arbeiten, was sich schwerer vereinbare­n lässt mit mehr als zwei Kindern.

Den Forschern ist ein Punkt besonders wichtig: gesellscha­ftliche Akzeptanz. Jahrzehnte­lang sei ein negativer Zusammenha­ng zwischen Bildung und Kinderreic­htum hergestell­t worden – das habe zu einer Stigmatisi­erung von kinderreic­hen Familien beigetrage­n. Bezeichnen­d dafür ist eine Umfrage, auf die die Studie verweist: Zwar stimmt nur jeder Zehnte der Aussage zu, „Kinderreic­he gelten als asozial“, aber gut 80 Prozent der Befragten glauben, dass die Gesellscha­ft insgesamt so denkt. Jörg Ratzsch, dpa

 ??  ?? Kinderreic­htum galt lange als „asozial“. Forscher fordern eine dringende Abkehr von diesem Denken. Foto: Uwe Anspach, dpa
Kinderreic­htum galt lange als „asozial“. Forscher fordern eine dringende Abkehr von diesem Denken. Foto: Uwe Anspach, dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany