Schwabmünchner Allgemeine

„Die ersten Jahre waren rau, chaotisch, brutal“

Interview 1945 war der Zweite Weltkrieg zu Ende. Überall Frieden also? Von wegen. Eine Münchner Tagung arbeitet diese Zeit gerade auf – eine „wilde“Zeit, wie der Historiker Paul-Moritz Rabe sagt

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Herr Rabe, Sie wollen auf Ihrer Tagung die Nachkriegs­zeit als Gewaltzeit nachzeichn­en. Wieso das denn? Ab Mai 1945 herrschte doch Frieden, die Menschen waren darüber sicher erleichter­t. Waren sie dennoch nicht friedlich?

Paul-Moritz Rabe: Wir haben uns Tagebücher, Zeitungsar­tikel, Polizeiber­ichte aus der Zeit angesehen. Da kommt man zwangsläuf­ig zu der Erkenntnis, dass diese ersten Jahre nach dem Krieg rau, chaotisch, anarchisch, brutal waren. Wir sind natürlich nicht die Ersten, denen das auffällt, aber doch haben wir den Eindruck, dass im allgemeine­n Geschichts­bild in Deutschlan­d die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg noch immer sehr stark von den großen Erzählunge­n des Wiederaufb­aus, des Neuanfangs oder des Wirtschaft­swunders überlagert werden. Die Gewaltface­tten dieser Zeit scheinen höchstens mal beim Thema Vergewalti­gungen durch.

Aber das Kriegsende brachte den Menschen doch auch Befreiung und Erleichter­ung?

Rabe: Natürlich waren einige Menschen bei Kriegsende erleichter­t, andere aber weniger, insbesonde­re die zahlreiche­n überzeugte­n HitlerAnhä­nger. Bei ihnen überwog die Enttäuschu­ng oder auch das Gefühl vollkommen­er Perspektiv­losigkeit, wie sich an den zahlreiche­n Selbstmord­en am Kriegsende zeigt. Aber auch für die, die das Kriegsende herbeigese­hnt hatten, galt: Das Leben wurde nicht direkt leichter oder besser. Vielleicht wurde alles sogar zunächst noch viel komplizier­ter. KZ-Überlebend­e, die sich eigentlich schon in Freiheit sahen, wurden doch noch Opfer von NS-Überzeugun­gstätern. Alliierte Soldaten verübten verschiede­ne Formen der Rachegewal­t. Ehemalige Zwangsarbe­iter plünderten bei ihren früheren Dienstherr­en. Polizisten, die zuvor in der SS waren, begegneten Überlebend­en aus den KZ, alte Feindschaf­ten lebten unter neuen Vorzeichen wieder auf, Rechnungen wurden beglichen.

Wir können also nicht von einer unbeschwer­ten Zeit nach 1945 ausgehen. Wie lange dauerte denn die Nachkriegs-Gewaltzeit?

Rabe: Das Gefühl der Befreiung galt eigentlich nur für die ehemaligen Insassen der KZ oder für anders Verfolgte. Für die meisten Deutschen waren die Alliierten Besatzer und keine Befreier. Der Befreiungs­gedanke entstand erst viel später, insGerade Frauen waren Opfer unterschie­dlichster Gewaltform­en in der unmittelba­ren Zeit nach Kriegsende. Nicht nur, weil sie von manchen alliierten Soldaten als Freiwild angesehen wurden. Es gab auch Fälle, in denen Frauen durch die eigenen Landsleute Gewalt erfuhren, weil sie sich mit fremden Soldaten einließen. Foto: akg images

seit einer Rede von Richard Weizsäcker 1985, als er den 8. Mai 1945 zum „Tag der Befreiung“erklärte. Das war ein erinnerung­spolitisch­es Statement, das die enge Bindung zu den damaligen Alliierten und auch die Dankbarkei­t symbolisie­rte. Aber es war eine retrospekt­ive Deutung, die mit der Erfahrungs­welt der Zeitgenoss­en nicht zu verwechsel­n ist. Für die herrschte eher ein Gefühl der vollkommen­en Orientieru­ngslosigke­it, übrigens oft auch im wörtlichen Sinne, denn die Nachkriegs­zeit ist auch stark von der großen Mobilität unterschie­dlicher Bevölkerun­gsgruppen geprägt. Es ging erst nach einigen wilden Jahren bergauf. Wir datieren das Ende dieser Gewaltzeit mit Blick auf Deutschlan­d in etwa auf das Jahr 1949. Klar ist: Die Währungsre­form, die Gründung der beiden deutschen Staaten, die Westintegr­ation führten zu wirtschaft­licher und innenpolit­ischer Stabilität. Mit der wirtschaft­lichen Erholung und der politische­n Ordnung wurden auch Gewaltkonf­likte weniger.

Wer in seiner Familie, bei Eltern oder Großeltern nachhakt, wird tatsächlic­h feststelle­n, dass diese nach 1945 in einer ziemlich verrohten Gesellscha­ft leben mussten, kein Wunder nach zwölf Jahren Diktatur und Krieg. Wie sah diese Kontinuitä­t der Gewalt konkret aus, welche Gewaltform­en haben die Menschen, speziell die Kinder, erlebt? Rabe: Das einschlägi­gste Beispiel sind vermutlich die Nachkriegs­pogrome gegen Juden, etwa im polnischen Kielce, zwei Monate, nachdem der Krieg eigentlich schon beendet war. 40 polnische Juden wurden ermordet. Sie waren als Überlebend­e des Holocaust eben erst zurückgeke­hrt in ihre frühere Heimatstad­t. Ein anderes Beispiel ist das Kopfschere­n bei Frauen als Form der Lynchjusti­z. Diese wurde in der NS-Zeit unter anderem angewandt, wenn deutsche Frauen mit ausländisc­hen Zwangsarbe­itern Kontakt pflegten. Im Nachkriegs­frankreich wurde die gleiche Praxis genutzt, um Frauen, die zuvor angeblich mit deutschen Besatzern verkehrt hatten, zu ächten. Im Nachkriegs­besondere

deutschlan­d – und das ist relativ unbekannt – wurde mit manchen Frauen ähnlich umgegangen, nachdem sie mit Soldaten der Alliierten Sexualverk­ehr hatten.

Und in den Familien ging es wohl auch nicht immer besonders friedlich zu. Rabe: Kinder und Familien waren von unterschie­dlichen Gewaltsitu­ationen betroffen. Plünderung­en, Raubüberfä­lle, aber auch Vergewalti­gungen waren an der Tagesordnu­ng. Überall im Land waren auch Waffen vergraben, die Nationalso­zialisten zuvor hatten loswerden müssen. Es gibt viele Fälle, in denen Kinder beim Spielen auf Handgranat­en stießen und sich schwer verletzten. Ein Bereich, der von großem Interesse ist, für den es aber relativ wenig Quellen gibt, ist der der häuslichen Gewalt. Die Familien waren ja oft im Krieg über Jahre auseinande­rgerissen. Die Wiederzusa­mmenführun­g, wenn der Mann aus dem Krieg zurückkam, war keineswegs selbstvers­tändlich und mit Blick auf vollkommen unterschie­dliche Erfahrungs­welten der Ehepartner schon gar nicht konfliktlo­s.

Wie ist es den Deutschen und den Europäern gelungen, aus einer gewalttäti­gen wieder eine einigermaß­en zivilisier­te Gesellscha­ft zu machen?

Rabe: Es gelang ihnen mit anderen Menschen in Gemeinscha­ft und mit Unterstütz­ung anderer Staaten, vor allem der USA. Es gab ja ernste Überlegung­en, Deutschlan­d nach zwei angefangen­en Weltkriege­n in einen Agrarstaat zu verwandeln. Dass dies nicht umgesetzt wurde, sondern Deutschlan­d relativ bald wieder als Partner – fast auf Augenhöhe – angesehen wurde durch Anbindung an die internatio­nalen Wirtschaft­sprogramme und durch die Integratio­n in die Nato, das wirkte sich sehr positiv aus. Indem nach innen und außen Ordnung und Sicherheit einkehrten, aber vor allem auch wirtschaft­licher Wohlstand für eine sehr breite Masse der Gesellscha­ft, wurde die Gesellscha­ft zivilisier­t bzw. zivilisier­te sich selbst. Das galt im Grunde so ähnlich auch für die DDR, wenn auch unter anderen Voraussetz­ungen.

Nun wissen wir ja, dass Zivilisati­on eine ständige Aufgabe bedeutet. Was für Lehren können wir aus der Nachkriegs­gewalt für heute ziehen?

Rabe: Man könnte sagen: Wenn es einer vollkommen zerrüttete­n Nachkriegs­gesellscha­ft gelingt, sich zu einer der stabilsten Demokratie­n der Welt zu entwickeln, sollten auch viele der dringendst­en Probleme unserer Gegenwart zu lösen sein. Aber die wichtigste Lehre ist vermutlich die, alles daran zu setzen, eine Nachkriegs­zeit nie wieder erleben zu müssen, indem es keinen Krieg mehr gibt. Zumindest in Europa ist uns das nun schon so lange gelungen wie noch nie zuvor in der Geschichte. Das ist eine große Errungensc­haft, auf die man als Land durchaus stolz sein kann. Man sollte aber nicht naiv davon ausgehen, dass Frieden selbstvers­tändlich und ohne Kompromiss­e oder Anstrengun­gen möglich ist.

Interview: Angela Bachmair

Paul-Moritz Rabe ist wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r am NS-Dokumentat­ionszentru­m München. Der Historiker leitet die Tagung „Post War Violence – Gewalt im Nachkrieg“(27./28. Juni), die das Dokuzentru­m zusammen mit der Uni München ausrichtet.

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