Schwabmünchner Allgemeine

Schachern statt Strategie: Europas Trauerspie­l

Leitartike­l Bei der Europawahl sind diesmal viel mehr Menschen zur Wahl gegangen. Aber Top-Politiker tun alles, um diesen demokratis­chen Aufbruch auszubrems­en

- VON GREGOR PETER SCHMITZ gps@augsburger-allgemeine.de

Vor wenigen Tagen saß ich mit einigen Menschen beim Abendessen zusammen. Es waren Männer und Frauen, denen Europa eine Herzensang­elegenheit ist, beruflich wie privat, und so ging es den ganzen Abend lang um Europa. Wie sind die Chancen von Weber, lautete eine Frage, natürlich. Dann wurde hitzig abgewogen, warum Macron partout Merkel ärgern will – und was nun mehr wert sei, der Chefposten der Europäisch­en Kommission oder doch der der Europäisch­en Zentralban­k?

Fast zwei Stunden ging das so, bis ein Teilnehmer hochschrec­kte und sagte: „Jetzt sind wir so, wie man es uns Journalist­en und Politikern immer vorhält – wir reden nur über Posten. Gar nicht über Positionen oder gar inhaltlich­e Politik.“Also versuchte jemand schuldbewu­ssthalbher­zig, die Rede auf strategisc­he

Herausford­erungen der EU zu lenken. Aber bald ging es doch wieder um: Posten.

Genau das ist das Problem. Es wird gerade ganz viel über Europa geredet, von ganz vielen Menschen. Nur geht es dabei so gut wie gar nicht um jene Fragen, die Europa umtreiben sollten – wie es umgeht mit einem selbstbewu­ssten China und einem unberechen­baren Amerika, wie es eine wirtschaft­liche Macht bleibt statt sich in ein Museum zu verwandeln, wie es seine Grenzen sichert und sich zugleich nicht abschottet, wie es das Klima rettet und doch innovativ bleibt?

Stattdesse­n geht es um: Posten, Posten, Posten. Auch der EU-Sondergipf­el am Sonntag wird darum kreisen. Das ist besonders schade, weil viel mehr Menschen bei der letzten Europawahl an die Urne gegangen sind. Fast wirkt es, als wollten Europas Top-Politiker diese Europa-Euphorie wieder verscheuch­en, indem sie sich besonders viel Mühe geben, alle Klischees von Europa-Gegnern zu bedienen.

Dazu gehört, dass das Prinzip „Spitzenkan­didat“madig gemacht wird, als sei es eine demokratis­che Schnapside­e gewesen, die es schnell wieder zu kassieren gelte. Nach dem Motto: Das mit mehr Demokratie ist ja eine schöne Sache, aber besser ist doch ohne. Deswegen soll der nächste Chef oder die nächste Chefin der EU-Kommission lieber ein im Hinterzimm­er ausgekunge­lter Name werden als einer der Spitzenkan­didaten bei der Europawahl.

Schuld daran tragen: Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron, der als Europa-Visionär antrat, aber nun „France First“praktizier­t, Hauptsache für ihn: ein „Non“zum Deutschen Manfred Weber. Bundeskanz­lerin Angela Merkel stemmte sich angeblich dagegen, aber selbst sie beäugte das Spitzenkan­didatenpri­nzip stets skeptisch.

Schuld trägt aber auch das Europaparl­ament. Schon vor fünf Jahren Zeichnung: Haitzinger versuchten die Staats- und Regierungs­chefs, „Spitzenkan­didaten“auszubrems­en. Damals stellte sich das Parlament auf die Hinterbein­e – auch weil der Christdemo­krat Jean-Claude Juncker im Sozialdemo­kraten Martin Schulz einen Verbündete­n fand.

Diesmal ist, zugegeben, die Mehrheitss­uche noch schwierige­r. Sozialdemo­kraten und Liberale hätten sich hinter der EVP und Weber versammeln müssen – statt das ganze Prinzip zu beerdigen. Es stimmt ja, perfekt ist die Spitzenkan­didatenwah­l noch nicht. Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung, siehe Wahlbeteil­igung. Blockiert sich das Parlament nun selbst, verrät es dieses Prinzip.

Für Weber wäre das bitter. Doch er könnte selbst dann in die Geschichts­bücher eingehen, wenn er den Spitzenkan­didaten einer anderen Partei stützt. Dann hätte Weber zwar ein Amt verloren, aber wahre Größe gewonnen und das Spitzenkan­didatenpri­nzip fürs Parlament gerettet.

Viel verlangt, gewiss. Aber einen Gedanken wert?

Man redet über Europa. Aber nur über Posten

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