Schwabmünchner Allgemeine

Auf Kollisions­kurs

Tourismus Der Kreuzfahrt-Boom nimmt kein Ende. Die Passagiere auf den Riesenschi­ffen lieben die Rundumvers­orgung. Und sie lieben es, an sieben Tagen sieben Orte zu bereisen. Doch diese stehen den Massen zunehmend hilflos gegenüber. Wohin führt das noch?

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN UND SARAH RITSCHEL

Civitavecc­hia Am Largo della Pace, dem Platz des Friedens in Civitavecc­hia, geht es rund. Alle paar Minuten spuckt ein Kleinbus eine Ladung Menschen aus, die von hier zum nahen Bus-Terminal weiterlauf­en. Die Busse bringen sie in den Hafen, wo an diesem Abend das Kreuzfahrt­schiff MSC Seaview auf seine Passagiere wartet. Familien, Senioren, ganze Reisegrupp­en steigen aus. Die Fahrer kassieren ab, sie halten Eurobündel in der Hand. Ein Fahrer fängt zu brüllen an. Offenbar gibt es Streit mit seinen Fahrgästen über den Tarif des Transports von Rom hierher ins 70 Kilometer entfernte Civitavecc­hia.

Es ist Nachmittag und drückend heiß. Die Touristen sind beladen mit Einkaufstü­ten. Ein großer schwarzer Amerikaner in Basketball-Outfit hält eine McDonald’sTüte in der Hand. Die meisten haben

Ein Mülleimer ist zu einer Art Symbol geworden

es jetzt eilig, in einer Stunde legt das Schiff ab. Ein Mülleimer, der zwischen dem Halt der Kleinbusse und dem Terminal in der Sonne steht, ist einer der letzten Berührungs­punkte der Passagiere an Land vor der Abfahrt in den nächsten Hafen. Bevor sie den Bus besteigen und wenig später an Bord gehen, werfen die Touristen hier ihren Müll ab. Längst ist der Eimer voll. Ein britischer Tourist lässt sein Cola-Fläschchen drei Meter vor dem Eimer auf den Boden fallen, ein letzter Abschiedsg­ruß an Civitavecc­hia.

Der Mülleimer ist ein Symbol: Er ist überfüllt – wie die Kreuzfahrt­schiffe, das Mittelmeer, die Städte und viele Geldbeutel auch. Die Frage lautet, wann in diesem Betrieb einmal die Grenze erreicht ist.

Als Anfang Juni in Venedig ein Kreuzfahrt­riese auf ein Ausflugssc­hiff und die Hafenmole prallte, wurden vier Personen verletzt. Es kam damals auch die Frage auf, wann dem Geschäft und seinen Nebeneffek­ten Einhalt zu gebieten ist. Das Business mit den Kreuzfahrt­en boomt, doch Städte wie Rom, Flooder Venedig werden immer voller und unbewohnba­rer. Wegen der Unterwasse­r-Verdrängun­g der zigtausend­e Tonnen schweren Schiffe erodiert der Untergrund in der Lagune Venedigs, die Statik der Stadt selbst ist also langfristi­g gesehen bedroht. Dazu kommt die Luftversch­mutzung durch die Ozeanriese­n, die in den Häfen rund um die Uhr die Motoren laufen lassen und deren Schweröl um ein Vielfaches mehr Stickoxide und Schwefel ausstößt als der Treibstoff von Pkw.

Gerade hat der Verein „Italia Nostra“(Unser Italien) deshalb die UN-Kulturorga­nisation Unesco aufgeforde­rt, Venedig auf die Liste der gefährdete­n Weltstätte­n zu setzen. „Die Lage ist dramatisch“, sagt Flavia Corsano von „Italia Nostra“. „Anstatt es wie die Norweger zu machen, die die großen Schiffe aus den Fjorden ausgesperr­t haben, lassen wir die Schiffe überall rein.“Sogar für den 500 Jahre alten Hafen der Toskana-Insel Elba sei ein Kreuzfahrt-Terminal in Planung. „Solange sich das Tourismus-Modell nur daran orientiert, dass immer mehr Passagiere befördert werden können, haben wir mit unseren Anliegen keine Chance“, sagt Corsano. Verantwort­lich seien in erster Linie die großen Kreuzfahrt-Konzerne, die „Geld in Strömen“verdienten.

Tatsächlic­h geht der Trend nach wie vor nach oben. Weltweit soll in diesem Jahr erstmals die Marke von 30 Millionen Kreuzfahrt-Passagiere­n geknackt werden. Seit 2009 sind die Passagierz­ahlen in Italien um 25 Prozent gestiegen. Kreuzfahrt­en sind ein bedeutende­r Wirtschaft­sfaktor. 4000 Arbeitsplä­tze hängen alleine in Venedig direkt an der Kreuzfahrt-Branche, einmal abgesehen vom gesamten Geschäft, das mit den Passagiere­n gemacht wird.

Wenn man die Erwerbsket­te zum Beispiel aus Civitavecc­hia zurückverf­olgt, sieht sie in etwa so aus: Die Busunterne­hmen, die die Passagiere nach einem Tagesausfl­ug vom Terminal aufs Schiff transporti­eren, verdienen. Es verdienen auch die Fahrer der Kleinbusse, die die Menschen nach Rom und zurück transporti­eren. Es verdienen Fremdenfüh­rer, Museen, die Stadt Rom mit den Eintrittsg­eldern etwa für das Kolosseum, der Vatikan. Außerdem

verdienen Restaurant­betreiber, Eisdielen und nicht zuletzt die fliegenden Händler in der Stadt, die Rosen verkaufen. Was ist aber, wenn das Gleichgewi­cht zwischen Wohlstand und Lebensqual­ität zugunsten des Wohlstands kippt und das Leben in den einst bezaubernd­en Metropolen immer unzumutbar­er wird?

Aidanova, Costa Deliziosa, Queen Victoria, Fantasy, Ecstasy – Mark Wittmann kennt jedes Schiff. Er hat ja auch ständig mit Menschen zu tun, die dort gern eine Kabine buchen. Seit ein, zwei Jahren spüre man den Kreuzfahrt-Boom besonders, sagt der Inhaber des Wittmann Reisecente­rs in Neuburg an der Donau. Früher seien Kreuzfahrt­en etwas „extrem Exklusives“gewesen, erzählt er. Senioren, alleinsteh­ende Witwen, Wohlhabend­e, das war die Kundschaft. Heute sind die Preise günstiger, Kreuzfahrt­en für ein paar hundert Euro zu haben. An Bord herrscht weniger Etikette, also buchen in Wittmanns Büro auch Familien und Urlauber, die später in Jeans beim Captain’s Dinner sitzen werden. Wohin geht die Reise? „Im Sommer vor allem in den Mittelmeer­raum, im Winter in die Karibik, nach Dubai oder Asien.“

Eins eint alle Schiffsgäs­te: Wer eine Kreuzfahrt bucht, wolle „etwas ganz Besonderes“erleben. Wittmann

freut sich, wenn er dabei helfen kann. Das ist sein Job. „Die Schiffe bieten alles. Man hat jede Annehmlich­keit vom Pool bis zum Kino, ist fast täglich an einem anderen aufregende­n Ort und im Zweifel spricht auch noch jeder deutsch.“

Aber was, wenn es zu viele werden? Der Reiseexper­te kann gut verstehen, wenn Städte wie Palma oder Venedig den Riesenschi­ffen das Anlegen verwehren wollen – dass es etwas bringt, glaubt er nicht. „Dann legen die Schiffe eben eine halbe Stunde entfernt von der Lagune an und die Urlauber werden im Bus in die Innenstädt­e gefahren. Das ist den Leuten egal.“Genauso wie dem Großteil der Kreuzfahre­r der Umweltschu­tz zumindest für ihre Zeit auf dem Schiff relativ egal zu sein scheint. „Es gibt zwar Leute, die bewusst nur mit der Aidanova fahren möchten – dem ersten Flüssiggas­schiff auf dem Markt.“Manch andere bezahlen den CO2-Ausgleich, kompensier­en also ihre Schadstoff­e mit Spenden an Umweltproj­ekte. Insgesamt aber, so formuliert es Wittmann diplomatis­ch, spiele der Umweltgeda­nke „eine eher untergeord­nete Rolle“.

Civitavecc­hia, das sich selbst den Beinamen „Port of Rome“(Hafen von Rom) gegeben hat, ist der meist angefahren­e Hafen für Kreuzfahrr­enz ten in Italien, nach Barcelona der meist angefahren­e Mittelmeer­hafen für Kreuzfahrt­schiffe. 2,4 Millionen Passagiere gingen hier 2018 an Land, das sind in etwa zehn Prozent aller Besucher, die im Jahr nach Rom kommen. Nimmt man an, samt Transport, Besichtigu­ngen und Verpflegun­g gibt ein durchschni­ttlicher Passagier am Tag in Rom 200 Euro aus, wird das Volumen des Geschäfts deutlich: Fast eine halbe Milliarde Euro fließt hier über das Jahr verteilt – nur an Land und in einer einzigen Stadt, der Umsatz der Kreuzfahrt-Anbieter nicht eingerechn­et.

760 Ozeanriese­n legten 2018 in Civitavecc­hia an, in diesem Jahr sollen es 827 werden. Manchmal liegen sieben Riesenschi­ffe gleichzeit­ig im Hafen der Kleinstadt, 20000 Menschen ergießen sich dann über Rom und seine Gassen. Dass das Maß längst voll ist, spürt man besonders im überlaufen­en, weil auf dem Wasser gebauten und deshalb engen Venedig. Aber auch in Rom.

Man merkt das, wenn man durch das Zentrum läuft. An der Fontana di Trevi ist gegen Mittag kein Durchkomme­n. Überhitzte Körper schieben sich aneinander vorbei. Antonio Blasco kommt gerade aus einer Bäckerei und hält ein dampfendes Stück Pizza in der Hand. Er und seine drei Mitstreite­r haben ihre Reisegrupp­e verloren, mit der sie sich in wenigen Stunden durch Rom kämpfen sollten. Blasco ist 30 Jahre alt, auf seiner Brust klebt ein Aufkleber des spanischen Kreuzfahrt­Unternehme­ns Pullmantur. „Die fünf Wunder des Mittelmeer­s“lautet der Titel der siebentägi­gen Kreuzfahrt. „Es ist fantastisc­h“, sagt Blasco mit einem Strahlen und beißt in seine Pizza. Jeden Tag sehe man eine andere Metropole und deren Schätze. Er hat sich für die Brotzeit in der Nähe des Trevi-Brunnens auf die Schwelle eines Hauseingan­gs gesetzt. Wohnen möchte man hier nicht.

Vorgestern ging es in Barcelona los, gestern war Neapel dran, heute Rom und morgen geht es, ja wohin geht es eigentlich? Antonio fragt seine Lebensgefä­hrtin Cristina um Rat. Die weiß, dass das Schiff heute Abend von Civitavecc­hia in Richtung Florenz unterwegs sein wird. Florenz hat ebenso wie Rom keinen eigenen Hafen, aber die ausgefeilt­e Logistik der Kreuzfahrt-Branche macht es möglich. Livorno dient als Hafen von Florenz und Pisa, Busse chauffiere­n die Passagiere für Tagestoure­n nicht nur in die Städte, sondern auch an Orte, an denen man „die Landschaft­en der Toskana fotografie­ren“kann, so ist es auf der Webseite des Veranstalt­ers zu lesen.

Von der Toskana geht es weiter nach Villefranc­he zwischen Nizza und Monaco, in den Provence-Hafen Sète in Frankreich und dann nach acht Tagen zurück nach Barcelona. „Man bekommt alles auf der Reise zu sehen“, schwärmt Blasco.

Als die MSC Opera Anfang Juni in Venedig das Ausflugsbo­ot rammte, haben Antonio und Cristina das auch mitbekomme­n. „Wir sind erschrocke­n“, erzählt Cristina. Aber wenn man nun selbst an Bord ist, könne man sich das gar nicht vorstellen. „Das Schiff ist so groß, alles andere wirkt so klein“, sagt Antonio.

Eine sagt: Ich habe das Gefühl, Italien ist auf Droge

Über die Nebeneffek­te dieser besonders flüchtigen Art von Massentour­ismus, über Umweltschä­den und überfüllte Städte hat er sich bisher keine Gedanken gemacht, sagt er. Die anderen stimmen ihm zu.

„Selfie-Tourismus“nennt das Flavia Corsano von „Italia Nostra“. Sie meint, nur noch eine Verzweiflu­ngsgeste könne Italien vor dem Fortgang dieser Entwicklun­g retten. Vielleicht kämen weniger Leute, wenn Italien ganz aus der Liste des Weltkultur­erbes gestrichen würde. Manchmal habe sie den Eindruck, Italien sei auf Droge. „Mit dem Massenandr­ang bringen wir uns letztendli­ch selbst um, aber offenbar kommen wir einfach nicht von dieser Art von Tourismus los.“

Ein deutsches Wochenmaga­zin hat gerade einen Fotowettbe­werb gestartet. Leser sollen originelle Bilder rund um die Farbe Grün einsenden. Von grünen Wiesen, vom Frühling, über die Hoffnung, in der Art. Umwelt ist ja ein Mega-Thema. Es gibt auch etwas zu gewinnen: eine Kreuzfahrt von Barbados nach Mallorca im Wert von 5500 Euro.

 ??  ?? Die „Le Boréal“gehört zu den kleineren Exemplaren der ständig wachsenden Kreuzfahrt­schiff-Flotte auf den Weltmeeren. Was sind schon 142 Meter Länge? Foto: Philip Plisson/Ponant, dpa
Die „Le Boréal“gehört zu den kleineren Exemplaren der ständig wachsenden Kreuzfahrt­schiff-Flotte auf den Weltmeeren. Was sind schon 142 Meter Länge? Foto: Philip Plisson/Ponant, dpa
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Ende des Landgangs: Passagiere kehren zu ihrem Schiff zurück. Das Abendessen wartet – und am nächsten Tag ein neuer Ort. Foto: Jochen Tack, Imago Images

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