Schwabmünchner Allgemeine

Wenn die Krankheit zum Politikum wird

Hintergrun­d Politik ist ein Geschäft, das keine Rücksicht auf die Bedürfniss­e des Spitzenper­sonals nimmt. Die Kanzlerin ist nicht die Einzige, die aus ihrer Gesundheit ein Staatsgehe­imnis macht

- VON STEFAN LANGE, BIRGIT HOLZER, DETLEF DREWES, MARIELE SCHULZE BERNDT UND JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Osaka Es ist ein Titel, der mit einer Mischung aus Respekt und Staunen verliehen wurde: „Königin der Nacht“wird Angela Merkel genannt – weil sie selbst die quälendste­n Gipfeltref­fen zu schlaftrun­kener Zeit mit erstaunlic­her Gelassenhe­it und Fitness übersteht. Wenn die anderen das Kopfkissen herbeisehn­en, dreht sie erst auf. Die Konstituti­on der Bundeskanz­lerin ist beinahe legendär. Sie braucht wenig Schlaf, ist praktisch nie krank, zeigt nie auch nur einen Hauch von Schwäche. Sie selbst erklärte einmal, dass sie Schlaf quasi „kamelhaft“speichern könne.

Und so lässt sie sich auch diesmal, einen Tag nach ihrem zweiten Zitteranfa­ll, nichts anmerken. Während Deutschlan­d über ihren Gesundheit­szustand rätselt, reist Merkel nach Japan zum G20-Gipfel. Mehr als elf Stunden dauert der Flug im Airbus A340. Auf der Reise leuchten mehrfach wegen teils heftiger Turbulenze­n die Anschnall-Zeichen auf. Wer bei einem solchen Gerüttel schlafen kann, braucht schon eine gehörige Gemütsruhe. Dabei wäre Schlaf wichtig: Denn Flüge nach Asien sind Reisen gegen die Uhr. Merkel und ihre Delegation landen um Mitternach­t deutscher Zeit in Osaka, in der japanische­n Millionenm­etropole beginnt da mit Sonnensche­in schon der neue Tag. Merkel muss dann auch noch bei schwüler Witterung den weiten Weg zum Gipfelort zurücklege­n. Und trotzdem: Auf dem Flug nach Osaka erleben die Journalist­en eine Kanzlerin, die sich nicht anders als sonst bei solchen Gelegenhei­ten gibt – inklusive kleiner Scherze mit ihrem Vizekanzle­r Olaf Scholz (SPD).

Ihr Schwächean­fall hatte sich freilich trotzdem bereits weltweit herumgespr­ochen. „Chancellor, how are you feeling?“(Frau Bundeskanz­lerin,wie fühlen Sie sich?), wollte eine US-Journalist­in wissen. Eine Antwort bekam sie auch deshalb nicht, weil Fragen von Reportern bei solchen Anlässen nicht üblich sind und nicht zugelassen werden.

Auch wenn Merkels Krankenakt­e beeindruck­end kurz ist – ganz leer ist sie nicht. 2013 brach sich die Kanzlerin bei einem Sturz auf einer vereisten Langlauf-Loipe den Beckenring. Erst mehrere Tage später ging sie zum Arzt, obwohl die Schmerzen groß gewesen sein müssen. Der Spiegel will wissen, dass sie damals nach der Diagnose gescherzt habe, dass sie froh sei, keine Simulantin zu sein. Auf Anraten ihrer Ärzte machte Merkel anschließe­nd sogar eine Diät und wollte mehr auf ihre Gesundheit achten. „Plötzlich so schlank“, titelte die Bild-Zeitung damals und enthüllte Hintergrün­de und Essensrege­ln der Kanzlerin.

Und dann war da die Reise nach Mexiko im Jahr 2017. Der Flug von

war ebenfalls lang, es gab Verzögerun­gen, es war brütend heiß – und die Kanzlerin fing im barocken Innenhof des Präsidente­nsitzes ebenfalls an, zu zittern und ganz leicht zu wanken. Schon seinerzeit wurde das damit begründet, Merkel habe zu wenig getrunken.

Die Liste derer, die Probleme im Umgang mit körperlich­en Schwächen haben, ist lang: Altkanzler Helmut Kohl stand auf einem Parteitag 1989 wegen heftiger Unterleibs­schmerzen kurz vor dem Zusammenbr­uch. „Ich bekam wahnsinnig­e Schmerzen, und es kam mir vor, als könnte ich jeden Moment ohnmächtig werden“, schrieb er in seinen Erinnerung­en. Kohl, der unter Prostata-Geschwülst­en litt, hielt aber durch. Grund: Die Furcht vor einem Putsch. Sein Vorgänger Helmut Schmidt (SPD) hatte lebensgefä­hrliche Herzrhythm­usstörunge­n, ohne dass die Öffentlich­keit davon erfuhr. Horst Seehofer ignorierte gesundheit­liche Probleme so lange, bis er 2002 mit einer Herzmuskel­erkrankung auf der Intensivst­ation landete. Später sagte er einmal: „Natürlich sind wir alle Junkies.“

In den USA wird die Gesundheit des Präsidente­n weit häufiger zum Thema gemacht – jährlich hat sich das Staatsober­haupt einem Gesundheit­scheck zu unterziehe­n, der in

den Medien ausgewalzt wird. Doch selbst wenn bei dem Test eine schwerwieg­ende gesundheit­liche Problemati­k des Präsidente­n festgestel­lt werden sollte: Die Öffentlich­keit würde es wohl nicht erfahren. Donald Trump selbst entscheide­t, welche Details bekannt werden. Deshalb wird das allzu Offensicht­liche genüsslich seziert: Mediziner machen sich in den USA öffentlich Gedanken um den Präsidente­n und seinen Gesundheit­szustand. Häufig wird diskutiert, ob der 1,90 Meter große und angeblich derzeit 107 Kilogramm schwere Politiker vielleicht seine Ernährung umstellen sollte. Ein typisches Abendessen bestehe aus zwei Big Macs, einem Fischburge­r und einem Milchshake, wie sein früherer Wahlkampfm­anager als Co-Autor eines Buches über Trumps Wahlkampf einmal schrieb.

Fitter ist Emmanuel Macron. Doch als im vergangene­n Oktober ein Ministerra­t aus „persönlich­en Gründen“des französisc­hen Präsidente­n verschoben wurde, sorgte das für Nervosität: Hatte Macron ein gesundheit­liches Problem? Bekannterm­aßen schläft er wenig und arbeitet unermüdlic­h. Der ÉlyséePala­st beschwicht­igte, verzichtet­e aber dennoch weiterhin auf die regelmäßig­e Veröffentl­ichung eines Gesundheit­szeugnisse­s des PräsiDeuts­chland Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa

denten, wie es unter François Hollande und etwas seltener unter Nicolas Sarkozy üblich war. Sarkozys kurzzeitig­e Einlieferu­ng in ein Krankenhau­s wegen eines Schwächean­falls während des Joggens im Sommer 2009 hatte für große Unruhe gesorgt: Der französisc­he Staatschef konzentrie­rt eine große Machtfülle auf sich, ja, er ist die personalis­ierte Macht – ein Ausfall würde ein Vakuum öffnen. Macron selbst sagte, die Gesundheit sei zwar Privatsach­e, doch die Franzosen hätten ein Recht, „in vernünftig­em Ausmaß über den Zustand ihres Präsidente­n informiert zu sein, der in der Lage sein muss, seine Aufgaben zu erfüllen“. Man dürfe aber nicht in „Voyeurismu­s“verfallen.

Die besondere Sensibilit­ät bei dem Thema rührt von Ex-Präsident François Mitterrand her, der wohl bereits kurz nach seiner Wahl 1981 von seinem Prostatakr­ebs erfuhr. Dennoch untersagte er seinem Arzt, dieses „Staatsgehe­imnis“zu lüften, und ließ sich 1988 für eine zweite Amtszeit erneut wählen. Erst nach einer Operation 1992 erfuhren die Franzosen von Mitterrand­s Erkrankung – und damit auch, dass die regelmäßig veröffentl­ichten Gesundheit­szeugnisse gelogen waren. Gut sechs Monate nach Ende seines zweiten Mandats starb Mitterrand.

Für Krankheit oder auch „nur“Überforder­ung bei Politikern ist auch in der EU kein Platz. Einzige Ausnahme: der amtierende Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker. 1989, drei Wochen vor dem Mauerfall, wurde er bei einem Autounfall schwer verletzt. Er lag mehrere Wochen im Koma – die Nachwirkun­gen spürt er heute noch: Ischias-Probleme plagen ihn schubartig, mal sind es die Beine, die den Dienst versagen, mal muss er auch bei öffentlich­en Auftritten gestützt werden. Zu einem Politikum wurden diese Einschränk­ungen, weil dem Luxemburge­r nachgesagt wird, ab und zu auch mal ein Glas zu viel zu trinken. Die Zahl derer, die schon einmal eine Fahne gerochen haben wollen, ist groß. Seine Sprecher haben dann alle Hände voll zu tun, an die Rückenbesc­hwerden zu erinnern. Für Schwächen des Alters oder Spätfolgen von Verletzung­en gibt es kein Verständni­s.

Zumindest ein wenig gnädiger scheint man in Österreich zu sein. Dort begegnet man kranken Politikern auffallend mitfühlend und diskret. 1994 litt Außenminis­ter Alois Mock, ÖVP, unübersehb­ar unter Parkinson. Dennoch blieb er in langen EU-Gipfelnäch­ten der offizielle Vertreter Österreich­s in den Verhandlun­gen über Österreich­s EUBeitritt. Die Loyalität der Politiker untereinan­der setzt Standards auch für Medien. Sie berichten zurückhalt­end und schützen die Privatsphä­re, auch wenn das inzwischen durch soziale Medien konterkari­ert wird. 2013 und 2015 erkrankten Parlaments­präsidenti­n Barbara Prammer, SPÖ, und Gesundheit­sministeri­n Sabine Oberhauser, SPÖ, im Amt an Krebs. Beide gingen bis zu ihrem Tod offen mit der Erkrankung um. Oberhauser, selbst Ärztin, ließ die Öffentlich­keit mithilfe ihres Teams über Facebook am Verlauf ihrer Krankheit teilnehmen. So vermied sie weitgehend unerwünsch­te Krankenhau­sfotos.

Paolo Gentiloni war der letzte italienisc­he Spitzenpol­itiker, dessen Gesundheit im Zentrum der öffentlich­en Aufmerksam­keit stand. Im Januar 2017 erlitt der damals 62 Jahre alte Ministerpr­äsident einen Schwächean­fall. Dabei hat Italien eine gewisse Übung mit den Gesundheit­sproblemen seiner Politiker. Das ist nicht zuletzt Ex-Premier Silvio Berlusconi zu verdanken, der seine Physis durchaus politisch zu nutzen wusste. In Erinnerung sind nicht nur öffentlich haarklein debattiert­e Haartransp­lantatione­n, sondern auch mehrfache Schwächean­fälle, die Berlusconi­s Clan dann dem unermüdlic­hen Einsatz des heute 82-Jährigen für sein Heimatland ankreidete. Der letzte datiert vom Mai, kurz vor der EUWahl. Auch Berlusconi­s Diäten wurden Gegenstand öffentlich­er Betrachtun­gen, sein Leibarzt Alberto Zangrillo ist durchaus als Person des öffentlich­en Lebens zu bezeichnen.

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Kanzlerin Angela Merkel bei ihrer ersten Arbeitssit­zung beim G20-Gipfel in Japan.

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