Betrifft: Wer bin ich?
Neulich, das hätte tatsächlich ein schlechter Traum sein können – aber die Wirklichkeit ist ja mitunter unerbittlicher, zumal in Zeiten ihrer digitalen Erweiterung. Eine Frühstücksszene am Tag nach einem Klassentreffen also, das nun nicht zum zehnjährigen Jubiläum stattfindet, aber eigentlich egal, an solchen Tagen geht es den einen immer eher besser, den anderen eher schlechter. Einer der anderen jedenfalls ist es, der hier am Tisch sein Smartphone nach einem kurzen Blick darauf sinken lässt und mehr zu sich selbst sagt: „Das ist einer der bitteren Momente im Leben…“Und nach besorgten Nachfragen fortsetzt: „…wenn einen die Face-ID nicht mehr erkennt.“
Zur Erklärung für Nicht-Total-Digitale: Face-ID ist die Gesichtserkennung im Smartphone, die anstelle einer PIN den Besitzer identifizieren und den Zugang absichern soll. Es waren also nach ziemlich objektiven Maßstäben verheerende Auswirkungen der Feier auszumachen am Tag danach. Wer bin ich – und wenn ja wie viele? Nicht ganz zufällig entstammt laut Richard David Precht ja auch dieser Titel seines Bestsellers einem morgendlichen Spruch am Ende einer durchzechten Nacht.
Und doch ist die Face-ID-Affäre mehr als eine „b’suff’ne G’schicht“und sollte gerade für die Total-Digitalen von Belang sein. Denn wie es heute bereits Uhren und auch T-Shirts gibt, die aktuelle Körperwerte messen und sie mit Zielvorgaben (fit! gesund! schön!) vergleichen – hier sieht man aufscheinen, was noch alles kommen könnte. Nicht chatten oder glotzen dürfen, weil zu schlecht ernährt. Nicht zu Hause rein dürfen, weil noch zu wenig Bewegung gehabt… Und die Krankenkasse grüßt am Frühstückstisch: Ab heute steigt ihr Beitrag, sie wurden einer höheren Risikogruppe zuordnet. Kontaktieren Sie bitte Ihren persönlichen Optimierungsbot … Na dann Prost!