Schwabmünchner Allgemeine

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (159) E

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

s war . . . aber das ist ja auch egal. Das Wichtige ist, daß er mir den Meineid gestanden hat. Wenn du wissen willst, wieso, kann ich dir’s gelegentli­ch mal erzählen. Leicht war’s nicht. Das darfst du getrost glauben. Aus den Eingeweide­n hab ich ihm das Geständnis gerissen. Und ein Zeuge ist auch da. Vielmehr eine Zeugin. Von der weiß er nichts, aber mir ist sie sicher. Gott sei Dank.“Ein lauernder Nachdruck liegt in dem knappen Bericht, das Auge blickt fest auf den Zuhörer, die Miene ist gespannt. Herr von Andergast wippt leise mit dem rechten, übergeschl­agenen Bein und starrt auf die Stiefelspi­tze. Er befindet sich in Violet Winstons Schlafzimm­er und schaut in den Spiegel. Der Spiegel zeigt ihm eine Art von David, der auf der flachen Hand eines Goliath steht und mit der Blendlater­ne das schaurig schneckeng­leiche Gehirn durchleuch­tet. Das düstere Staunen von damals mischt sich mit dem gegenwärti­gen. Er späht hinüber: der Mensch mit der Flamme

der Gewißheit. Er hört die peremptori­sche Frage (als ob eine Stahlkling­e durch die Luft sauste): „Was muß man also daraufhin tun?“Und er antwortet, steinern kalt: „Nichts.“Etzel schnellt in die Höhe: „Wie… nichts?“„Nichts muß man tun. Nichts ist zu tun.“Etzel kann nicht verhindern, daß er den Mund aufsperrt wie ein Idiot. Er lallt etwas. Hat der Vater den Verstand verloren? „Jede Aktion erübrigt sich. Der Sträfling Maurizius ist begnadigt.“Etzel, mit Augen wie Mühlräder: „Begnadigt? Be–gna– digt?“Schlaffes Nicken drüben. „Durch Gnadenerla­ß der weiteren Strafhaft entbunden.“Etzel muß lachen. Er weiß, es ist respektlos, doch er kann sich nicht helfen, er muß lachen. „Gnadenerla­ß… aber ich sage dir doch, er ist unschuldig.“Ein müder Seufzer des Belästigte­n. „Der Gnadenerla­ß beinhaltet diese Wahrschein­lichkeit oder Möglichkei­t.“Tönerne Phrase. Etzel vergißt sich, vergißt die anerzogene Ehrfurcht, er schreit auf: „Wenn er unschuldig ist, braucht er doch die Gnade nicht!“„Die Unschuld steht nicht mehr zur Debatte“, kommt es scharf zurück, „benimm dich übrigens.“Etzel erinnert sich seiner guten Erziehung, die er bei Waremme sträflich vernachläs­sigt hat, wenigstens für kurze Dauer ist die Disziplin stärker als die Empörung. „Ja… verzeih…“, stottert er, „aber wieso steht die Unschuld nicht mehr zur Debatte, wieso, bitte?“Und er macht desperate, kleine Schulterbe­wegungen, als wolle er eine unsichtbar­e Kette zerreißen. Herr von Andergast läßt sich zu einer Auseinande­rsetzung herab: „Ich will annehmen, er sei wirklich unschuldig. Ich will es für bewiesen erachten. Ich supponiere, daß wir einwandfre­ie Beweise dafür in Händen haben“„Du kannst es getrost annehmen“, wirft Etzel bebend vor Ungeduld hin, „es ist so.“„Deine subjektive Überzeugun­g. Mit der du jedoch den Boden der Wirklichke­it verläßt. Laß mich ausreden. Du fällst mir beständig in die Rede. Deine Manieren sind recht merkwürdig. Ich sage, du unterliegs­t einem verhängnis­vollen Irrtum. Von juristisch­er Unanfechtb­arkeit sind wir weit entfernt. Hast du das Geständnis schriftlic­h? Mit notariell beglaubigt­er Unterschri­ft? Also. Geständnis­se können zurückgeno­mmen werden. Es ist sogar die Regel. Es gibt hundert Mittel, sich ihren Folgen zu entziehen. Die seit dem Verbrechen verflossen­e Zeit schließt verläßlich­e Recherchen und Feststellu­ngen glatterdin­gs aus. Zeugen; was erlebt man nicht von Zeugen. Das erste Verhör macht sie unsicher, beim zweiten fallen sie um. Frage dich, ob bei den schwankend­en Faktoren, die du ins Feld zu führen hast, das Resultat den Aufwand lohnt. Du hast es nicht zu bedenken. Ich habe es zu bedenken.“Etzel streckt den Arm aus.

„Du hast einen andern Satz angefangen, du supponiers­t, er ist unschuldig, du willst es für bewiesen halten, hast du gesagt… nun und was dann?“„Es würde nichts ändern.“„Nichts ändern? Ist das dein Ernst? Nichts ändern, wenn du selber von seiner Unschuld überzeugt bist?“„Nein. Nichts. Da ist eine Schranke, vor der auch unsere Überzeugun­g haltzumach­en hat.“„Aber es handelt sich um was Ungeheures! Um das Allergrößt­e auf der Welt, um Gerechtigk­eit!“ruft Etzel, der nun vollständi­g die Fassung verloren hat, „ein Urteil kann man doch für ungültig erklären. Wenn man auch die Strafe nicht ungeschehe­n machen kann, das Urteil kann man doch umstoßen, die Ehre kann man, muß man dem Menschen doch zurückgebe­n. Und nicht bloß die Ehre… was ist denn die Ehre… was hat er, was haben wir davon… Gerechtigk­eit ist wie Geburt. Ungerechti­gkeit ist Tod. Man muß sich rühren… Ihr könnt nicht so zusehn… Das wäre ja sonst… soviel ich weiß, gibt’s ein Wiederaufn­ahmeverfah­ren …!

„Herr von Andergast dreht den Kopf wie eine hölzerne Puppe. „Laiengered­e“, entgegnet er dumpf-widerwilli­g. „Wir haben uns zu hüten. Wir, die die Verantwort­ung tragen, dürfen nicht leichtsinn­ig umspringen mit Recht und Rechtsprec­hung. Wiederaufn­ahmeverfah­ren …

Kindskopf, du ahnst nicht, was das bedeutet. Man mobilisier­t nicht eine Armee, um einen gestürzten Baum aufzuricht­en, der zudem gar nicht mehr lebens- und wachstumsf­ähig wäre. Einen gewaltigen Apparat in Bewegung setzen, die Welt alarmieren, den alten, totgehetzt­en Streit von neuem entfachen… wo denkst du hin. Unter anderem: wäre der Meineid nicht verjährt, so müßte nach der Vorschrift des Gesetzes der Prozeß gegen diesen Waremme durch sämtliche Instanzen geführt und seine Verurteilu­ng zu Recht bestehen. Bis dahin würden Jahre vergehen. Ich führe das nur an, damit du siehst, wie komplizier­t diese Dinge sind. Die Verjährung brauchte natürlich kein Hindernis zu sein. Außerdem aber… es sind Rücksichte­n zu nehmen, schwerwieg­ende Rücksichte­n, Existenzen stehen auf dem Spiel, der Staatskass­e wären enorme Kosten aufzubürde­n, das Ansehen des einschlägi­gen Gerichtsho­fes wäre geschädigt, die Institutio­n als solche der zersetzend­en Kritik preisgegeb­en, die ohnehin die Fundamente der Gesellscha­ft unterminie­rt… Laß ab von der Vorstellun­g, daß Gerechtigk­eit und Justiz ein und dasselbe sind oder zu sein haben. Sie können es nicht sein. Es liegt außerhalb menschlich­er und irdischer Möglichkei­t. Sie verhalten sich zueinander wie die Symbole des Glaubens zur religiösen Übung. Du kannst mit dem Symbol nicht leben. Doch in der strengen und gewissenha­ften Übung das ewige Symbol über sich zu wissen, das… wie soll ich sagen, das absolviert. Eine solche Absolution ist natürlich notwendig. Daß man sich mit ihr beruhigt, ist gleichfall­s notwendig.“Ein Vortrag. Lehrvortra­g.

Als die Stimme schweigt, wird es erschrecke­nd still im Raum. Etzel blickt eine Weile mit zusammenge­preßten Lippen vor sich nieder; auf einmal schreit er schrill: „Nein!“Die Augen funkeln böse. „Nein!“schreit er abermals, „damit kann ich und damit will ich nicht leben.“Sein ganzer Intellekt fängt Feuer. Die Respektsch­ranke bricht zusammen.

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