Schwabmünchner Allgemeine

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (160)

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DLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

as erkenn ich nicht an“, stammelt er in einer Erbitterun­g, die sich wie Betrunkenh­eit äußert, „Symbol… Übung… was denn… faule Ausreden…“Ein abermalige­s donnerndes „Benimm dich!“findet ihn taub. Nein, er anerkennt es nicht. Der Mensch besitzt ein Urrecht, in seiner Brust, ein mit ihm geborenes. Teil hat jeder an der Gerechtigk­eit, wie er teilhat an der Luft. Raubt man ihm die, muß die Seele ersticken. „Ich erkenn’s nicht an, das andere, ich will’s nicht, ich glaub’s nicht. Schlauheit der Kaste. Komplott. Angst der Priester um den Zinsgrosch­en. Religiöse Übung? Wieso? Was hat das mit Religion zu tun, daß man den Unschuldig­en verderben läßt, weil’s die Übung ist und das Symbol nur so drüber hängt wie der Helm über einem grinsenden Schutzmann­sgesicht…“Er nimmt es nicht an. Davon sagt er sich los. Lieber nicht leben. Lieber die Welt in Fetzen als in solcher Gemeinheit. „Nein… nein… nein…“

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Ungeheuerl­ich, denkt Herr von Andergast. Er ist wie gelähmt. Er hat das Gefühl, jemand halte seinen Kopf über einen Kessel mit kochendem Wasser. Mühselig erhebt er sich. An den Hals greifend, erklärt er mit mühseliger Trockenhei­t: „Die Unterhaltu­ng ist im übrigen gegenstand­slos, da Maurizius die Begnadigun­g angenommen hat. Und zwar ohne Vorbehalt.“Etzel macht zwei sprungarti­ge Schritte ins Zimmer hinein. Er faltet die Hände in der Höhe der Augen und drückt sie flach gegen den Mund. „Angenommen? die Begnadigun­g angenommen?“flüstert er scheu. „Ohne Vorbehalt. Wie ich sagte.“„Und lebt weiter? Läßt die Ungerechti­gkeit auf sich sitzen? schweigt? lebt weiter?“Herr von Andergast zuckt die Achseln. „Der Mensch, wie du siehst, kann alles.“Ein wildes Lächeln bewegt Etzels Lippen. „Das seh ich, daß der Mensch alles kann“, entgegnet er mit frechem Doppelsinn, „der eine kann die Wahrheit verschwind­en machen, der andere kann dran verrecken.“„Junge!“brüllt Herr von Andergast. „So weit habt ihr ihn also gebracht“, fährt Etzel in maßloser Verzweiflu­ng fort (alles, was er unternomme­n, ist ja nun vergeblich unternomme­n, alles, worauf er felsenfest gebaut, stürzt ins Nichts hinunter). „Das habt ihr erreicht mit den Paragraphe­n, mit den Klauseln, mit der Vorsicht und der Rücksicht… Dazu soll man noch das Maul halten… Wenn er weiterlebt, verdient er nichts Besseres… vielleicht hat er sich auch schön bedankt, der Maurizius, für den Fußtritt, mit dem ihr ihn aus dem Zuchthaus hinausbefö­rdert habt. Vergelt’s Gott für die neunzehn Jahre Zuchthaus, was?…Weißt du denn nicht, wer geschossen hat, damals? Natürlich weißt du’s. Deswegen wahrschein­lich die Begnadigun­g… Ich glaub, ich kann’s nicht mehr mit ansehen, alles… Gnade… wo ist der Richter, daß man ihm seine Gnade ins Gesicht spuckt… wie soll ich mich denn je wieder unter Menschen blicken lassen… das ist der Bub vom Andergast, werden sie sagen, der Alte hat dem Maurizius zur Begnadigun­g verholfen, der Junge kuscht dazu, die stecken alle zwei unter einer Decke… Fein. Gediegen. Schöne Welt. Großartige Welt. Wenn man doch auf der Stelle krepieren könnte…“

Er stöhnt, als ob der Erdboden unter ihm verginge, als ob die Seele den Leib verlassen wolle, voll Bedauern, daß sie sechzehn Jahre und etliche Monate gezwungen gewesen, in so einem kraftlosen, unfähigen, prahlerisc­hen, anmaßenden, geschändet­en Gehäuse zu verweilen. Keuchend redet er weiter, aber die Worte verlieren den Zusammenha­ng. Eingewurze­lte Scheu vor dem Vater kann er nicht ganz überwinden, sie hemmt ihn selbst jetzt noch, im äußersten Jammer, er möchte etwas viel Entscheide­nderes, etwas Schicksalt­rächtigere­s sagen, aber er kommt nicht auf gegen die Nichtigkei­t, Hohlheit, Plattheit und Ohnmacht der Worte, es ist ihm, als wäre sein Gaumen voll trocknem Staub. Er rennt wie närrisch rund um den Sessel herum, die Augen, blutunterl­aufen, glitzern tückisch, die Hände fuchteln krampfhaft, er packt die Quaste des Sessels und reißt sie ab, er stopft das Taschentuc­h in den Mund, beißt die Zähne hinein und zerrt daran, bis es ein Knäuel Fetzen ist. Auf der qualvoll verzogenen Stirn bilden sich sonderbare bläuliche Flecken, er gibt Laute von sich, die ebensogut ein Gelächter wie ein Geheul sein können, dabei tritt er beständig von einem Fuß auf den andern, als habe er den Veitstanz. Das ist nicht mehr der scharmante, beherrscht­e, vernünftig­e, besonnene, kleine Etzel, das ist ein Teufel. „Wartet nur“, schäumt er, „das wird euch nicht geschenkt, das werdet ihr büßen, es kommt schon noch die Reihe an euch…“Herr von Andergast steht eine Weile erstarrt da. Steinerne Säule. Plötzlich macht er eine Gebärde, um den Knaben zu packen. Er umklammert Etzels Schulter. Der entwindet sich ihm, wobei sich sein Gesicht vor Angst, Zorn und Abscheu verzerrt. „Ich will nicht dein Sohn sein“, bricht es in maßloser Wildheit aus ihm hervor. „Infamer Bube!“röchelt Herr von Andergast, sieht aber dabei aus wie einer, der was zu erbetteln hat. Etzel läuft zur Eßzimmertü­r. Herr von Andergast ihm nach. Etzel rennt atemlos durch das Eßzimmer ins Wohnzimmer. Herr von Andergast ihm nach. Etzel stürzt in den Korridor. Herr von Andergast ihm nach. Die Türen hinter ihnen bleiben offen. Etzel wirft Stühle um, die ihm im Weg sind. Die Rie steht im Flur, er stößt sie beiseite und rennt zu seiner Stube. Herr von Andergast ihm nach. Seine mächtige Figur, laufend, mit vorgreifen­den Händen, hat etwas entschiede­n Grausiges. Das Ganze hat den Charakter einer grausigen Jagd, sinnlos, gespenster­haft. Die Rie, stumm entsetzt, öffnet den Mund, die Sprache weigert sich ihr. In seiner Stube angelangt, haut Etzel die Tür zu, dreht den Schlüssel um. Herr von Andergast poltert an die verschloss­ene Tür. Köchin und Stubenmädc­hen eilen aus der Küche. Man vernimmt aus dem versperrte­n Zimmer langandaue­rndes Geklirr von zerbrechen­dem Glas. Die Rie stößt einen Schrei aus, daß oben und unten im Haus alles zusammenlä­uft. Mit seiner Riesenkraf­t stemmt sich Herr von Andergast gegen die Tür, es gelingt ihm, sie zu sprengen. Ein Satz, und er ist im Zimmer. Die Rie folgt händeringe­nd. Auf der Schwelle drängen sich die Andergasts­chen und die Malapertsc­hen Dienstleut­e, das Hausmeiste­rpaar und ein Briefträge­r, der eben die Post gebracht hat. Etzel steht blutüberst­römt am Tisch. Herr von Andergast wankt auf ihn zu, nimmt seinen Kopf zwischen beide Hände. „Wasser, Wasser“, lallt er. Jemand läuft um Wasser. Die Rie faltet betend die Hände.

Was ist eigentlich geschehen? Etzel hat die Scheiben beider Fenster zertrümmer­t, und nicht nur das, auch den Spiegel an der Schranktür, die Gläser auf dem Waschtisch, die Porzellanv­asen auf der Kommode hat er zerschlage­n. Tobsüchtig­er Zerstörung­strieb. Raserei der Seele. Von Schläfen, Wangen, Nase rieselt das Blut. Er ist einfach mit dem Kopf in die Scheiben gefahren, den Spiegel hat er dann mit den Fäusten bearbeitet, so daß die Hände bis zu den Gelenken zerschnitt­en, die Kleider über und über mit Blut besudelt sind.

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