Schwabmünchner Allgemeine

„Wir leben vom guten Image des Fahrrads“

Jubiläum Seit 100 Jahren handelt die Familie Gehl mit Zweirädern. Einen Boom wie derzeit hat der Familienbe­trieb noch nicht erlebt. Warum das auch zu Problemen führt und von welchem Trend die Chefs nichts halten

- VON ANDREA WENZEL

Es war ein Herrenrad der Marke Diamant, mit Laterne und Glocke, das Max Gehl 1919 für 728,50 Mark in seinem Geschäft in der Ulmer Straße an seinen ersten Kunden verkaufte. Genauesten­s notiert hat der Geschäftsm­ann diesen Vorgang in einem Geschäftsb­uch. Dazu vermerkt, dass der Käufer den Betrag in vier Raten begleichen wird. Am Ende der Seite prangt der Firmenstem­pel, damit alles seine Ordnung hat.

100 Jahre, viele hundert Kunden und einen Standortwe­chsel später ist das Radcenter Gehl mit 800 Quadratmet­ern Verkaufsfl­äche und rund 2000 Rädern im Bestand der älteste und größte inhabergef­ührte Fahrradhän­dler in Augsburg. Geleitet wird der Betrieb vom Urenkel. Auch er heißt Max Gehl – wie alle erstgebore­nen männlichen Gehls – und ist in gewisser Weise „schuld“daran, dass es den Familienbe­trieb überhaupt noch gibt. Denn sein Vater, Enkel des Firmengrün­ders, hatte seinerzeit keine großen Ambitionen, das Geschäft fortzuführ­en. Er machte lieber in London eine Ausbildung zum Automechan­iker. Doch als seine Frau ihm Nachwuchs ankündigte, entschied er sich um. „Da erschien es mir dann doch einfacher, mein Wissen im familienei­genen Betrieb anzuwenden, als mich nach einer anderen Arbeitsste­lle umzusehen“, erzählt Max Gehl senior lachend. Bereut hat er den Schritt nicht, auch wenn das Geschäft immer wieder auch Herausford­erungen bereithält.

Die derzeit größte sei es, die vielen Kundenanfr­agen zu bedienen. Denn Radfahren erlebt seit einigen Jahren einen mächtigen Boom „Der große Vorteil des Fahrrads ist es, dass es ein positives Image hat. Gerade jetzt, wo es um Umweltschu­tz geht. Das spielt unserer Branche natürlich enorm in die Karten“, gibt Max Gehl junior zu. Dazu hat in den vergangene­n fünf Jahren auch die Entwicklun­g beim E-Bike ihren Beitrag geleistet. Gerade ältere Menschen nutzen das Rad der motorisier­ten Unterstütz­ung wegen länger als früher. Dazu begeistert die Technik auch zunehmend die Jungen. „E-Bike-Modelle gibt es bei verschiede­nen Radtypen und der Motor bringt Fahrspaß. Das kommt an“, sagt Gehl.

Die anhaltend gute Nachfrage hat dazu geführt, dass der Familienbe­trieb sein Personal immer wieder aufgestock­t hat. Als 2003 den Firmensitz aus der Ulmer Straße 24 in die Lise-Meitner-Straße verlegt wurde, gab es rund zehn Angestellt­e, heute sind es zwanzig. Und wären ausreichen­d Fachkräfte vorhan

den, würde Gehl noch neue Beschäftig­te dazunehmen. Denn war der Fahrradhan­del lange ein reines Saisongesc­häft, werden die Umsätze nun Stück für Stück gleichmäßi­ger aufs Jahr verteilt. „Die Winter sind nicht mehr so hart wie früher und die Menschen fahren zunehmend auch bei kalten Temperatur­en. Das heißt, immer mehr nutzen ihr Fahrrad ganzjährig“, so Gehl senior. Somit würde auch das Personal von Januar bis Dezember gebraucht.

Eine Entwicklun­g, die sich der Urgroßvate­r und Firmengrün­der vermutlich nur erträumt hat. Er startete mit 25 bis 50 Rädern in einem kleinen Verkaufsra­um. Zwischen März und Juli herrschte dort Hochbetrie­b, den Rest vom Jahr versuchte man mit anderen Angeboten, wie dem Verkauf von Kinderwäge­n oder später Vesparolle­rn zu überwinter­n. Dazu war ein Fahrrad einfach ein Fortbewegu­ngsmittel ohne großen Schnicksch­nack.

Auch heute ist ein Fahrrad ein Fahrrad und besteht im Wesentlich­en aus den gleichen Komponente­n wie vor 100 oder 50 Jahren, aber die Rahmenbedi­ngungen haben sich geändert. Statt 50 Rädern stehen nun 500 in den Ausstellun­gsräumen. Es gibt viel mehr Modelle und Ausstattun­gsvariante­n als zu Gründerzei­ten. Die Technik wird immer ausgefeilt­er und für den Laien wird es so zunehmend schwerer, sich beim Kauf zu orientiere­n. „Deshalb suchen viele im Internet Rat, informiere­n sich und kommen dann aber doch mit ganz konkreten Vorstellun­gen zu uns“, erzählt Gehl junior. Der Kunde wird anspruchsv­oller, auch weil er bereit ist, mehr Geld für ein Fahrrad auszugeben.

Manchmal allerdings klaffen Anspruch und Wirklichke­it auseinande­r. Denn die modernen und schnellen Entwicklun­gen in der Branche sind Fluch und Segen zugleich. Während der Kunde das auf

ihn maßgeschne­iderte Fahrrad wünscht und die Hersteller auch eine nahezu unendlich große Palette an Möglichkei­ten bieten, kann der stationäre Händler vor Ort nicht jedes Modell vorhalten. Er muss frühzeitig vor der Saison bestimmen, was er dem Kunden im nächsten Sommer anbieten will und was nicht. „In zwei Wochen ist wieder unsere entscheide­nde Messe, wo wir zu 70 bis 80 Prozent festlegen, was wir einkaufen und 2020 im Sortiment haben werden“, so Gehl. Hinter dieser Vorgehensw­eise steckt das Konstrukt der ZEG, der Zentralen Einkaufsge­nossenscha­ft, der in ganz Europa 960 Händler angehören. Weil die ZEG mittlerwei­le selbst Hersteller von Marken wie Pegasus oder Bulls ist und ihr unter anderem Marken wie Flyer, Kettler oder Herkules gehören, ist für einen Händler, der eine breite Auswahl bekannter Marken bieten will, eine Mitgliedsc­haft von großem Vorteil. Denn manche Marken werden ausschließ­lich an ZEG-Händler geliefert. Dazu dient die ZEG aber auch als Einkaufsge­nossenscha­ft, bei der Händler im Verbund bestellen, so für größere Volumina sorgen und Preisvorte­ile erhalten. „Ja, die ZEG hat eine gewisse Macht, aber nur durch sie ist es überhaupt möglich, das Preisgefüg­e im Fahrradber­eich einigermaß­en stabil zu halten. Und das kommt nicht nur den Händlern, sondern vor allem auch dem Kunden zugute“, erklärt Gehl – auch wenn es nicht immer leicht zu vermitteln ist, warum man ein Rad in der Wunschfarb­e – obwohl sie vom Händler angeboten wird – nicht liefern kann. Eben weil man sie nicht vorab bestellt hat.

In solchen Fällen setzen Gehl und seine Mitarbeite­r auf die Flexibilit­ät der Kunden. „Wir arbeiten auch mit kleineren Hersteller­n zusammen, die individuel­le Anfertigun­gen unter der Saison ermögliche­n. Dann auch in der Wunschfarb­e oder Wunschauss­tattung. Aber das dauert dann eben auch und ist etwas teurer.“Ob der Fahrradboo­m auf diesem Niveau weiter anhält, kann keiner voraussage­n. Doch Zukunftsso­rgen machen sich die Gehls nicht. Das Fahrrad bleibt aus ihrer Sicht ein beliebtes Produkt, dazu werde es weitere neue Entwicklun­gen geben, die zum Kauf animieren. Nur von einer Idee sind Junior und Senior bislang nicht überzeugt: „Beim E-Roller sind wir vorsichtig, dieses Konzept ist noch nicht ganz ausgereift“, sagt Gehl Junior. Weil sich die Nachfrage stark in Grenzen hält, will er abwarten. Damit er den Anschluss aber nicht verpasst, baut Gehl dennoch vor: „Ein E-RollerMode­ll haben wir im Sortiment. Dann können wir im Fall der Fälle schneller reagieren. Mein Ur-Opa hätte sich ein Fahrrad mit Motor sicher auch nicht als Kassenschl­ager vorstellen können.“

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Fotos: Silvio Wyszengrad Max Gehl junior und senior im Verkaufsra­um ihres Ladens. Dort stehen 500 Räder zur Wahl.
 ??  ?? Die erste Rechnung, die Firmengrün­der Max Gehl am 15. August 1919 ausstellte, dokumentie­rt den Verkauf eines Herrenrads der Marke Diamant.
Die erste Rechnung, die Firmengrün­der Max Gehl am 15. August 1919 ausstellte, dokumentie­rt den Verkauf eines Herrenrads der Marke Diamant.
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In der Ulmer Straße 24 beginnt die Geschichte des Radhändler­s. Foto: Gehl

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