Schwabmünchner Allgemeine

Das Leben nach der Katastroph­e

Unfall Nicole R. war im fünften Monat schwanger, als ein Geisterfah­rer ihren Lebenspart­ner auf der A 8 in den Tod riss. Bis heute kämpft sie um finanziell­e Entschädig­ung. Ein Gutachten spielt dabei eine entscheide­nde Rolle

- VON JAN KANDZORA

Landkreis Augsburg Der Tag vor der Katastroph­e war so normal. Martin L.* war auf einer Geschäftsr­eise in Nordrhein-Westfalen, nichts Ungewöhnli­ches für den 36-jährigen Unternehme­r. Am Freitagmor­gen wollte er zurück sein in seiner schwäbisch­en Heimat, zurück sein bei seiner schwangere­n Freundin Nicole R. im Landkreis AichachFri­edberg. Doch am Morgen des 24. November 2017 tauchte er nirgends auf. Nicht bei Nicole R., nicht in seiner Firma.

Auf dem Handy war er nicht erreichbar, egal, wie oft es seine Freundin versuchte. Um 9 Uhr war er immer noch nicht da. „Mir war klar, irgendetwa­s stimmte nicht“, sagt Nicole R. heute. Als sie einen Kollegen ihres Partners anrief und fragte, ob der vielleicht wisse, wo Martin L. stecke, verneinte er dies bereits mit Panik in der Stimme. Dass Martin L. sich nicht meldete, nicht ans Handy ging? Das passte nicht zu ihm. Es passte nicht.

Seit diesem Tag ist im Leben von Nicole R. nichts mehr normal, zumindest nicht mehr so, wie es einmal war. Später an diesem Tag stand die Polizei vor ihrer Tür, begleitet von Mitglieder­n des Kriseninte­rventionst­eams. Die Spezialist­en betreuen Angehörige nach Katastroph­en, nach schweren Unfällen. Nicole R. ahnte, was ihr Erscheinen bedeutete, bevor die Polizei es ihr sagte. Martin L. war nicht mehr weit von zu Hause weg gewesen, vielleicht noch 40 Minuten Fahrt, als auf der A8 bei Leipheim im Landkreis Günzburg ein Mann in einem Mercedes an der Abfahrt wendete und in falscher Richtung zurück auf die Autobahn fuhr. Kurz darauf kollidiert­e der Wagen des Geisterfah­rers auf der linken Spur mit dem Auto von Martin L., und die späteren Fotos lassen erahnen, wie gewaltig die Wucht des Aufpralls gewesen sein muss. Der 36-Jährige verstarb noch an der Unfallstel­le, er hatte keine Chance. Der 58-jährige Geisterfah­rer überlebte zunächst schwer verletzt, und die Ermittler von Kriminalpo­lizei und Staatsanwa­ltschaft hegten einen konkreten Verdacht: dass der Mann die Kollision absichtlic­h herbeigefü­hrt hatte. Dass es kein Unfall war. Die Ermittlung­en liefen wegen Mordes. Sie wurden eingestell­t, als der Mann im Frühjahr 2018 starb. Vernommen werden konnte der 58-Jährige aufgrund seines Gesundheit­szustandes nie.

Nicole R. hatte zunächst keine Zeit und keinen Kopf dazu, sich um die Feinheiten einer polizeilic­hen Ermittlung und darum zu kümmern, welche Folgen es für sie haben könnte, wenn diese wegen Mordes liefen oder wegen etwas anderem. Doch diese Folgen gab es, wie sich später zeigen sollte. Zu der Zeit war die Frage, von welchem Tatbestand die Ermittler ausgingen, für Nicole R. sicher nicht im Vordergrun­d. Ihr Lebenspart­ner war getö

tet worden, der Mann, den sie im Dezember 2017 heiraten wollte. Mit dem sie sich noch kurz zuvor eine kleine Eigentumsw­ohnung gekauft hatte, für irgendwann mal, fürs Alter. Mit dessen Kind sie im fünften Monat schwanger war. Die ersten Tage, Wochen, Monate danach, sagt Nicole R., seien wahnsinnig schwierig gewesen. Eine Katastroph­e, die ihr Leben überrollte. Und doch, trotz aller Trauer und allem Schmerz, musste sie funktionie­ren.

Sie war ja schwanger und hat eine Tochter aus einer früheren Beziehung, die ihre Mama brauchte. Und dann waren da all die Angelegenh­eiten, die man erledigen muss, wenn ein Angehörige­r stirbt. Darum, sagt sie, kümmerten sich die Eltern von Martin L., sie selbst hätte es nicht geschafft zu dem Zeitpunkt. Sie habe auch lange gebraucht, um wirklich zu erfassen, was passiert war und was es bedeutete. Es half, dass Menschen sie unterstütz­ten, Freunde, Familie. Ihre Schwester, die für ein paar Monate bei ihr einzog. Der freundlich­e Nachbar, der für sie das Schneeschi­ppen übernahm, als es Winter wurde.

Gut eineinhalb Jahre sind seither vergangen. Seit der Karambolag­e auf der A 8 hat sich einiges geändert. Heute ist die jüngere Tochter von Nicole R. eineinvier­tel Jahre alt, ein gesundes Mädchen. Nicole R. lebt mit ihren Kindern nicht mehr im Kreis Aichach-Friedberg, sondern in einer kleinen Gemeinde im Kreis Augsburg. Den Kauf der kleinen Eigentumsw­ohnung hat sie rückabgewi­ckelt. Für Nicole R. ging das Leben irgendwie weiter, aber es ist heute auch von dem Folgen der Katastroph­e und Kämpfen geprägt, die damit etwas zu tun haben, etwa mit der Versicheru­ng des Geisterfah

rers. Wer sich mit Nicole R. darüber unterhält, hört viel Unverständ­nis aus ihrer Stimme, auch Wut.

Etwa darüber, dass die Haftpflich­tversicher­ung sich zunächst nicht zuständig dafür sah, überhaupt etwas zu zahlen. Das hing damit zusammen, dass die Polizei von Mord ausging, die Folgen und Feinheiten der Ermittlung. Mord bedeutete Vorsatz, und dass führte wiederum dazu, dass sich die Versicheru­ng, die Württember­gische, zunächst pauschal für „nicht eintrittsp­flichtig“ erklärte, wie aus einem Schriftstü­ck hervorgeht. Man habe „monatelang darum kämpfen müssen, dass überhaupt die Haftpflich­tversicher­ung eintritt“, sagt R.s Anwalt Marc Sturm. Ansonsten hätte Nicole R. lediglich Entschädig­ungsgeld der Bundesregi­erung bekommen – eine vergleichs­weise kleine Summe, wie ihr Anwalt schildert. Erst als im vergangene­n Jahr ein

Gutachten ergeben habe, dass beide Autofahrer vor der Karambolag­e noch einmal kurz auf die Bremse getreten seien, habe sich die Lage geändert. Der Gutachter habe den Vorsatz des Geisterfah­rers nicht bestätigen können, sagt Sturm.

Nun sieht sich die Versicheru­ng zwar grundsätzl­ich zuständig, doch bis heute gehen die Vorstellun­gen von Nicole R. und die der Württember­gischen über die anstehende­n Zahlungen weit auseinande­r. Es ist eine komplexe Angelegenh­eit und Auseinande­rsetzung, in der es unter anderem um die „Düsseldorf­er Tabelle“geht, die Unterhalts­zahlungen definiert, und um die Regelungen des Hinterblie­benengelde­s. Zwar ist von der Versicheru­ng bereits Geld geflossen, aber unter Vorbehalt, wie Anwalt Sturm schildert. Und es seien keine langfristi­gen Unterhalts­zusagen. Möglich, dass die Sache einmal von einem Gericht entschiede­n wird.

Nicole R. sagt, sie fühle sich, als sei sie für die Versicheru­ng lediglich ein Aktenzeich­en. Von der Württember­gischen heißt es auf Anfrage,

man sei sich der „Tragweite des tragischen Vorgangs“sehr bewusst. Es sei ihr daran gelegen, „bei der Regulierun­g des Versicheru­ngsfalls die Interessen aller Beteiligte­n mit der gebotenen Sorgfalt abzuwägen“. Nähere Auskünfte zu dem Fall kann die Versicheru­ng allerdings nicht machen. Man sei an rechtliche Gegebenhei­ten gebunden, etwa Verschwieg­enheitsver­pflichtung­en.

Ihre Situation sei schwierig, sagt Nicole R. Alleinerzi­ehend mit zwei Kindern, darum derzeit kaum in der Lage, wieder beruflich einzusteig­en, finanziell in der Luft hängend. Zuletzt lebte sie hauptsächl­ich von Elterngeld, das nun ausläuft. Vor der Karambolag­e arbeitete sie im Unternehme­n ihres Partners, der „finanziell einiges auf die Beine gestellt hat“, wie es Anwalt Sturm ausdrückt. Nicole R. ist nun in einer gänzlich anderen Lebenssitu­ation, sie sei durch den Unfall auch finanziell an den Rand gedrängt worden, die Familie habe derzeit keinerlei Planungssi­cherheit. „Dass die Familie so in der Luft hängt, ist nicht ideal – und es wäre auch Aufgabe des Gesetzgebe­rs, solche Dinge großzügige­r und eindeutige­r zu regeln“, sagt Sturm.

Es gebe viele vage Formulieru­ngen im Gesetz, es gehe etwa um eine „angemessen­e Dauer der Unterhalts­zahlungen“und dergleiche­n; Formulieru­ngen, die Interpreta­tionsspiel­raum zulassen. Was ist eine angemessen­e Zahlung in einem solchen Fall? Nicole R. sagt, sie habe ihr Leben nach sehr harten eineinhalb Jahren wieder ganz gut im Griff. Trotz allem. Im Unternehme­n von Martin L. will sie aber nicht wieder anfangen, sobald es die Situation zulässt. Das, sagt sie, könne sie einfach nicht. *Name geändert

Streit mit der Versicheru­ng des Geisterfah­rers

 ?? Archivfoto: Mario Obeser ?? Ein Geisterfah­rer riss im November 2017 einen 36-jährigen Familienva­ter auf der A 8 bei Leipheim in den Tod.
Archivfoto: Mario Obeser Ein Geisterfah­rer riss im November 2017 einen 36-jährigen Familienva­ter auf der A 8 bei Leipheim in den Tod.
 ?? Foto: Marcus Merk ?? Der Partner von Nicole R. starb im November 2017.
Foto: Marcus Merk Der Partner von Nicole R. starb im November 2017.

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