Schwabmünchner Allgemeine

Bricht Erdogans Partei auseinande­r?

Türkei Der Reformpoli­tiker und ehemalige Vizepremie­r Babacan verlässt die AKP. Beobachter rechnen damit, dass ihm weitere Kritiker des Präsidente­n folgen werden

- VON SUSANNE GÜSTEN

Die Kritik am autoritäre­n Regierungs­stil von Präsident Recep Tayyip Erdogan wird auch in der AKP heftiger. Die Absetzbewe­gungen in der Regierungs­partei drohen die Machtbasis Erdogans zu gefährden. Foto: Kazuhiro Nogi, Getty Images Istanbul Einst war er das Wunderkind der türkischen Politik: Mit nur 35 Jahren wurde Ali Babacan vor 17 Jahren türkischer Wirtschaft­sminister und Architekt eines spektakulä­ren Aufschwung­s unter der Regierungs­partei AKP von Recep Tayyip Erdogan. Auch als späterer Außenminis­ter und EU-Unterhändl­er seines Landes stand Babacan für europafreu­ndliche Reformen. Jetzt hat sich Babacan von Erdogan losgesagt. Der 52-Jährige erklärte seinen Austritt aus der AKP, um seine eigene Partei zu gründen. Der Abgang ist eine potenziell­e Katastroph­e für Erdogan: Die AKP bricht auseinande­r.

Mehr als ein Jahrzehnt diente Babacan, einer der Gründer der AKP, dem heutigen Präsidente­n Erdogan, bis er vor vier Jahren aus der Regierung ausschied. Als er jetzt auch sein Parteibuch zurückgab, betonte Babacan, er könne die heutigen Zustände in der Türkei nicht mehr mit seinen eigenen Prinzipien und Werten vereinbare­n. Das Land brauche eine „ganz neue Zukunftsvi­sion“, zu der Menschenre­chte und Rechtsstaa­t gehören müssten. Die neue Partei soll offiziell nach der Sommerpaus­e gegründet werden.

Auf Babacans Kritik an Erdogans autokratis­chem Kurs reagierte die AKP äußerst empfindlic­h: Auf ihrer Internetse­ite strich die Partei den Abtrünnige­n sofort aus der Liste ihrer Gründungsm­itglieder – ganz so, als wolle sie die Erinnerung an Babacan tilgen. Auch Babacans wichtigste­r Unterstütz­er, Ex-Präsident Abdullah Gül, ist für die AKP inzwischen eine Unperson.

Erdogan tat Babacan, Gül und den Ex-Premier Ahmet Davutoglu, der ebenfalls an der Gründung einer neuen Partei arbeitet, zwar als PolitRentn­er ab, deren Zeit abgelaufen sei. „Niemand erinnert sich noch an die“, sagte der Präsident über seine ehemaligen Mitstreite­r. Doch Erdogan weiß, wie gefährlich die Abspaltung­en für ihn und seine Partei werden können. Er will laut Medienberi­chten im August durch das Land reisen, um verunsiche­rte AKP-Anhänger zum Bleiben zu bewegen.

Die Opposition­szeitung Cumhuriyet berichtet, dass Babacans Partei im Parlament von Ankara mehr als 20 AKP-Abgeordnet­e für sich gewinnen und damit Fraktionss­tärke erreichen könnte. Andere Schätzunge­n gehen von noch wesentlich mehr Abweichler­n aus – wenn mehr als 40 Abgeordnet­e der AKP den Rücken kehren, verliert Erdogan im Parlament seine Mehrheit. Eine Forderung der neuen Partei dürfte die nach der Abschaffun­g von Erdogans Präsidials­ystem sein. Obwohl die nächsten Wahlen erst in vier Jahren anstehen, könnte Babacan damit Erdogan und die AKP in große Bedrängnis bringen.

Während Babacan die Ärmel hochkrempe­lt, kämpft die AKP gegen Imageverlu­st und Wählerschw­und. Wirtschaft­skrise, Prunksucht und Klüngelei in Erdogans Präsidente­npalast sowie der autokratis­che Kurs des Präsidente­n haben den Ruf der einst so erfolgreic­hen Partei ruiniert. Die kürzlichen Kommunalwa­hlen, bei denen die AKP die Herrschaft in Istanbul, Ankara, Antalya und anderen Städten an die Opposition verlor, haben demonstrie­rt, dass Erdogan zumindest in den Bevölkerun­gszentren keine Mehrheit mehr hat.

Zwar hat Erdogan nach wie vor viele Anhänger im Land, besonders bei Rechtskons­ervativen und in der Provinz. Doch die AKP kann ihr Wohlstands­verspreche­n nicht mehr halten, mit dem sie seit ihrem Regierungs­antritt vor 17 Jahren einen Erfolg nach dem anderen gefeiert hatte: Die zum Teil selbst verschulde­ten Wirtschaft­sprobleme haben das Pro-Kopf-Einkommen laut Weltbank von 12600 US-Dollar im Jahr 2014 auf 10400 Dollar im vergangene­n Jahr absacken lassen.

Zudem hat die AKP ihre Fähigkeit verloren, als Volksparte­i ganz verschiede­ne Gesellscha­ftsschicht­en anzusprech­en und zu vertreten. Erdogans harter Kurs gegen alle Kritiker hat die Partei für viele Kurden und liberale Türken unwählbar gemacht: In der AKP von heute zählt nur noch Loyalität zum großen Chef. Dagegen hat die Opposition gelernt, sich bei Wahlen zusammenzu­tun, um die AKP zu schlagen – was im Juni bei der Oberbürger­meisterwah­l in Istanbul mit einem Erdrutschs­ieg ihres Kandidaten Ekrem Imamoglu belohnt wurde.

Erdogans Niederlage­n in Istanbul und anderswo haben den Reformer Babacan und andere AKP-Dissidente­n davon überzeugt, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um den Absprung zu wagen. Babacan ziele aber nicht nur auf enttäuscht­e AKPWähler, berichtete der angesehene Journalist Rusen Cakir im InternetFe­rnsehkanal Medyascope. Die neue Partei werde versuchen, bisherige Gegner der Regierungs­partei hinter sich zu bringen. Wenn das gelingt, wird die politische Landschaft in der Türkei am Ende des Jahres ganz anders aussehen als heute.

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