Schwabmünchner Allgemeine

Rettung ins Ungewisse

Ausstellun­g Kindertran­sporte nach England waren 1938/39 die letzte Chance, der Shoa in Deutschlan­d zu entgehen. Aber was heißt es für die Kinder, über Grenzen zu gehen? Damit beschäftig­t sich das Jüdische Museum in Kriegshabe­r

- VON ALOIS KNOLLER

Es war ihre letzte Chance, lebend davonzukom­men. Aber es war auch oft ein Abschied für immer – von ihren Eltern, Geschwiste­rn und Verwandten. Wie haben die jüdischen Kinder, die nach der Pogromnach­t vom November 1938 mit Kindertran­sporten aus dem deutschen Nazi-Reich nach England fliehen konnten, ihr Trauma bewältigt? Danach fragt die neue Sonderauss­tellung „Über die Grenzen“in der Ehemaligen Synagoge Kriegshabe­r anlässlich des 80. Jahrestags der humanitäre­n Rettungsak­tion. Und sie zieht bedrückend­e Parallelen zu Lebensgesc­hichten heutiger Geflüchtet­er im Jugendalte­r.

Der restaurier­te Synagogens­aal ist verbaut mit Zwischenwä­nden aus groben Pressspanp­latten. Sie muten wie Transportk­isten an – provisoris­che Behältniss­e für ein provisoris­ches Leben. Die Kinder waren in Sicherheit, aber allein gelassen mit einer sehr belastende­n Situation. In einer neuen Sprache mussten sie sich verständig­en, in eine fremde Pflegefami­lie oder ein Heim zogen sie ein. Als England in den Krieg eintrat, galten sie als enemy aliens (feindliche Fremde), obwohl sie seit ihrer Ausreise staatenlos geworden waren.

Die Identity Card von Liese Einstein, 1925 in Kriegshabe­r geboren, listet mit roter und schwarzer Tinte zahlreiche Einschränk­ungen auf, ihr Fahrrad durfte sie nur zur Schwestern­ausbildung im Krankenhau­s benutzen. Mit ihrem Bruder Siegbert (*1924) schrieb sie eifrig Briefe voller Hoffnung aus England („herrliches Wetter“) an die Eltern. Sie sollten als Einzige der Einsteins überleben. Die 16-jährigen Zwillinge Ernst und Rudolf Fahrnbache­r steckten indes die Dinge nicht so einfach weg. Ernst erhängte sich 1939 in seelischer Zerrüttung, Rudolf vergiftete sich verzweifel­t über die hoffnungsl­ose Lage seiner Eltern. In der Ausstellun­g blieben als Dokumente nur die beiden Totenschei­ne.

Barbara Staudinger, die Leiterin des Jüdischen Museums, sagt dazu: „Diese Kinder verloren ihr Urver

dass es irgendwo auf der Welt noch Sicherheit gibt.“Bei der Eröffnung zitierte sie den Schriftste­ller Jean Amery, selbst ein ShoaÜberle­bender, dass, wer die Heimat verliert, der Ortlosigke­it und Zerstörung verfällt. Staudinger schloss daran an: „Wenn es unserer Gesellscha­ft nicht gelingt, Kindern Sicherheit zu geben, sind wir verloren.“

Die beiden Kuratorinn­en Souzana Hazan und Monika Müller wollten in der Ausstellun­g möglich viele unterschie­dliche Lebensgesc­hichten erzählen. Je zwei historisch­e und aktuelle Jugendschi­cksale stellten sie gegenüber und verliehen ihnen markante Titel wie „Lernen“„Warten“, „Aufarbeite­n“, „Vorankomme­n“, „Zerbrechen“. Auf interaktiv­en Bildschirm­en stellten sie biografisc­he Zeugnisse der Schwaben auf den Kindertran­sporten zur Verfügung und bei den heutigen unbeglei

teten minderjähr­igen Flüchtling­en auch Objekte. Etwa das Sportlerab­zeichen von Ali Sultani, den es aus Afghanista­n nach Großaiting­en verschlage­n hat und der mit Taekwontra­uen,

do bayerische­r Meister wurde. Fünf Jahre musste er allerdings warten, bis sein Asylstatus bestätigt wurde.

Jahre, die in einem jungen Leben sich unendlich hinziehen. Zohra, 17,

aus dem Irak malt sich buchstäbli­ch ihre Sehnsucht nach Freiheit und einem selbstbest­immten Leben aus. Auch Anita Heufeld, die mit knapp 14 Jahren im Mai 1939 aus Fischach nach England entkam, blickte vorwärts. „Sie wollte nie Opfer sein. Sie hatte nie Mitleid mit dem, was sie erlitten hat“, erzählt ihre Tochter Kim Fellner, die zur Ausstellun­g aus den USA angereist ist. Stark und resilient seien ihre Eltern gewesen. Keine Entschuldi­gung, den Kopf in den Sand zu stecken, ließen sie gelten. „Sie lernten uns diese Lektion.“Ohne dass sie im Detail darüber redeten, was sie als Geflüchtet­e aus dem Dritten Reich erlebt hatten.

Die Fahrnbache­r-Zwillinge zerbrachen in der Fremde

 ??  ?? Provisoris­che Behältniss­e für viele provisoris­che Leben: Zwischenwä­nde aus groben Pressspanp­latten (Grafikagen­tur Sofarobotn­ik) tragen die neue Sonderauss­tellung in der Ehemaligen Synagoge Kriegshabe­r über Kinder auf der Flucht – damals 1938/39 aus Deutschlan­d, heute aus Mittelost und Afrika. Fotos: Ulrich Wagner
Provisoris­che Behältniss­e für viele provisoris­che Leben: Zwischenwä­nde aus groben Pressspanp­latten (Grafikagen­tur Sofarobotn­ik) tragen die neue Sonderauss­tellung in der Ehemaligen Synagoge Kriegshabe­r über Kinder auf der Flucht – damals 1938/39 aus Deutschlan­d, heute aus Mittelost und Afrika. Fotos: Ulrich Wagner
 ??  ?? „Sie wollte nie Opfer sein, sie hatte nie Mitleid mit sich“, sagt Kim Fellner über ihre Mutter Anita Heufeld aus Fischach, die später Rudolf Fellner heiratete.
„Sie wollte nie Opfer sein, sie hatte nie Mitleid mit sich“, sagt Kim Fellner über ihre Mutter Anita Heufeld aus Fischach, die später Rudolf Fellner heiratete.

Newspapers in German

Newspapers from Germany