Schwabmünchner Allgemeine

Ursula von der Leyens großer Tag

Hintergrun­d Die CDU-Politikeri­n will EU-Kommission­spräsident­in werden. Wer ihre Chancen ausloten will, muss sich mit vielen Zahlen beschäftig­en. Es dürfte sehr knapp werden

- VON DETLEF DREWES

Straßburg Die Stunde der Wahrheit für Ursula von der Leyen naht. An diesem Dienstag entscheide­t sich, ob die 60-jährige CDU-Politikeri­n den Höhepunkt ihrer politische­n Laufbahn erklimmt und zur EUKommissi­onspräside­ntin aufsteigt – oder aber scheitert. 374 Stimmen braucht sie, wenn das Europäisch­e Parlament gegen 18 Uhr zur geheimen Wahl schreitet. Eigentlich gehören der Volksvertr­etung 751 Abgeordnet­e an (damit läge die Mehrheit bei 376 Stimmen), doch derzeit sind es vier weniger. Drei katalanisc­he EU-Parlamenta­rier durften ihr Amt nicht antreten, weil ihnen die Regierung in Madrid jede politische Tätigkeit verweigert. Eine dänische Abgeordnet­e fehlt. Sie wurde gerade zur Ministerin in der neuen Regierung auserkoren und ein Ersatz konnte noch nicht bestimmt werden. Da man davon ausgehen kann, dass die 182 Mitglieder der christdemo­kratischen EVP-Fraktion alle für „ihre“Kandidatin stimmen, fehlen von der Leyen 192 Stimmen.

Und damit beginnt die parteipoli­tische Rechnerei. Denn über alle Fraktionen hinweg sitzt die Verärgerun­g darüber tief, dass die Staatsund Regierungs­chefs nicht einen der Spitzenkan­didaten bei der Europawahl für die Kommission nominiert haben – ein Streit, der in kaum einem anderen Land so erbittert geführt wird wie in der Bundesrepu­blik und vielleicht noch in den Niederland­en. Zwar hat sich das deutsche Wort „Spitzenkan­didat“inzwischen in allen anderen EU-Sprachen durchgeset­zt, nicht aber die öffentlich­e Erregung. Dabei ist die Kandidatur von der Leyens lediglich das Ergebnis der Tatsache, dass es weder im Kreis der Staats- und Regierungs­chefs noch bisher im Parlament eine Mehrheit gab – für keinen der Spitzenkan­didaten.

Ursula von der Leyen weiß, was von ihr erwartet wird, wenn sie heute um neun Uhr an das Rednerpult im Straßburge­r Parlaments­saal tritt. Das Wochenende hat sie in Brüssel verbracht, mit ihrem Stab an der „Rede ihres Lebens“gefeilt, wie einige Beobachter die Bewerbungs­ansprache schon nennen. Rund 60 Minuten hat sie Zeit, um zu sagen, wie sie den Klimaschut­z voranbring­en, den Asylstreit schlichten und vor allem die Rechtsstaa­tlichkeit in den Mitgliedst­aaten wiederhers­tellen will. Danach wird bis zum Mittag im Plenum diskutiert. Anschließe­nd tagen die Fraktionen. Gegen 18 Uhr steht die geheime Abstimmung an. Mit einem Ergebnis rechnen die Experten zwischen 19.30 und 20 Uhr.

Es könnte aber auch ganz anders

Während der Beratungen der Parteienfa­milien wird es Kontakte untereinan­der geben. Beobachter schließen nicht aus, dass im Falle eines absehbaren Scheiterns die Abstimmung auch noch wenige Minuten vorher abgesetzt und auf September verschoben wird. Das hat es schon einmal gegeben, als 2009 der damalige Kommission­schef José Manuel Barroso mit seinem Team auf eine Ablehnung der Volksvertr­eter zusteuerte.

Auch für von der Leyen bleibt die

zentrale Frage: Wer könnte sie wählen? Eine klare Absage gab es bisher von den Grünen und Teilen der Sozialdemo­kraten, vor allem der SPD. Am Montag aber gerieten die Dinge in Bewegung. Die Kandidatin schickte den europäisch­en Sozialdemo­kraten ein achtseitig­es Papier zu. Es enthält Zusagen, die weit über alles Bisherige hinausgehe­n. So erklärte sie sich bereit, eine Vorlage ihrer Kommission zu präsentier­en, um die Treibhausg­ase bis 2030 um 55 Prozent zu reduzieren. Auch einen eukommen. ropaweiten Mindestloh­n will von der Leyen angehen. Die Rechte des Parlaments sollen gestärkt werden, indem der Abgeordnet­enkammer künftig ein Initiativr­echt gewährt wird. Damit könnte das Plenum selbst Gesetzesvo­rschläge in die Wege leiten. Bisher darf das nur die EU-Kommission. Ein weitgehend­es Kompromiss­angebot an die Sozialdemo­kraten und die Grünen also.

Die früheren Liberalen, die heute „renewEU“heißen, dürften die Verteidigu­ngsministe­rin wohl mittragen. Außerdem wesentlich­e Teile der EKR-Fraktion, die wesentlich von der polnischen Regierungs­partei PiS bestimmt wird und über 26 Stimmen verfügt. Entscheide­nd dürfte sein, welchen Einfluss die Staats- und Regierungs­chefs auf die Abgeordnet­en ihres Landes ausüben. Denn die Staatenlen­ker hatten die CDU-Politikeri­n schließlic­h nahezu einstimmig nominiert. Somit darf von der Leyen wohl auch mit Unterstütz­ung jener Parlamenta­rier rechnen, die bei den Rechten und Rechtspopu­listen sitzen. Die italienisc­he Lega bringt 18 Abgeordnet­e mit, deren Koalitions­partner Cinque Stelle 14 und die ungarische Fidesz, die zu den Christdemo­kraten gehört, kann 13 Parlamenta­rier beisteuern. Das ergibt zusammen mit den PiS-Politikern unterm Strich mehr Ja-Voten, als die gesamte grüne Fraktion hat. Aber will von der Leyen von den Rechtspopu­listen gewählt werden? Sie könnte es zumindest nicht verhindern.

Im Dunstkreis der Christdemo­kraten rechnet man allerdings damit, dass in anderen Fraktionen noch „intensiv nachgedach­t“wird. Denn selbst wenn die Mehrheit des Hohen Hauses in Straßburg die Ministerin zurückweis­t, käme keiner der bisherigen Spitzenkan­didaten mehr zum Zug. Schließlic­h sind Teile des Personalko­nzeptes bereits beschlosse­n, sodass der Spielraum für eine neue Suche sehr begrenzt ist: Es muss eine Frau aus den Reihen der Christdemo­kraten sein, weil Sozialdemo­kraten und Liberale schon Positionen bekommen haben. Mit allen anderen Namen, die gerade noch im Umlauf sind, geht die Rechnung aber nicht mehr auf – entweder der Proporz zwischen Männern und Frauen stimmt nicht mehr. Oder das Gleichgewi­cht der Parteien gerät aus der Balance.

Am heutigen Dienstag schlägt die Stunde des Parlaments. Ob es am Ende auch Ursula von der Leyens großer Tag wird, ist völlig offen.

Rechtspopu­listen könnten die Wahl entscheide­n

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Mit einem Foto der damals achtjährig­en Ursula als Schülerin der Europäisch­en Schule Brüssel wirbt von der Leyen um Stimmen. Foto: Von der Leyen

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