„Es gibt mehr Zahnarzthelferinnen als -gattinnen“
Interview Die Regierung muss dringend eine Grundrente einführen, sagt DGB-Rentenexpertin Annelie Buntenbach. Eine Bedürftigkeitsprüfung lehnt sie dabei ab. Aber ist solch eine Grundrente überhaupt finanzierbar?
Frau Buntenbach, wer neu in Rente geht, bekommt als Mann in Bayern derzeit im Durchschnitt rund 1100 Euro Rente. Frauen, aber auch viele Städte wie Augsburg liegen deutlich darunter. Wie soll man denn davon leben können, wenn eine Wohnung vielleicht 800 Euro Miete kostet? Annelie Buntenbach: Das ist ein großes Problem. Viele Menschen haben lange Jahre im Niedriglohnbereich gearbeitet oder in Teilzeit – nicht immer freiwillig. Gerade Frauen. Wenn sie jetzt in Rente gehen, reicht es oft nicht über die Grundsicherung hinaus, obwohl sie so viele Jahre gearbeitet haben. Jetzt rächt sich, dass in der Vergangenheit die Renten gekürzt wurden und der Niedriglohnbereich ausgeweitet wurde. Heute drohen viele Rentnerinnen und Rentner in Altersarmut zu rutschen. Deshalb finde ich den Vorschlag von SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil für eine Grundrente sehr gut.
Mit der Grundrente würde – einem Beispiel der SPD zufolge – eine Frisörin nach 35 Jahren Arbeit statt 513 dann 961 Euro Rente bekommen. Wäre damit das Problem gelöst? Buntenbach: Es wäre auf jeden Fall für viele eine Verbesserung. Die Gewerkschaften fordern seit langem, dass die Rente aufgewertet wird für jene mit niedrigem Einkommen, wenn sie lange Jahre eingezahlt haben. Damit die Betroffenen nicht in die Altersarmut abrutschen und auf Grundsicherung angewiesen sind. Das gehört für mich zum Respekt vor der Lebensleistung der Menschen dazu. Wer 35 Jahre und mehr gearbeitet und in die Rentenkasse eingezahlt, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt hat oder einmal arbeitslos war, soll am Ende eine bessere Rente bekommen. Das würde rund drei Millionen Menschen helfen – auch jenen, die bereits Rente beziehen. Eine Grundrente stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Anders als die Union will die SPD keine Prüfung, ob der Empfänger die Rente wirklich braucht. Der Streit über die Bedürftigkeitsprüfung dauert seit Wochen an. Wird die Grundrente am Ende blockiert?
Buntenbach: Ich erwarte von der Großen Koalition, dass sie wirklich praktische Maßnahmen beschließt, die ein würdevolles Leben im Alter ermöglichen. Dafür müssen die Koalitionspartner jetzt einen Weg finden und das schnell ins Gesetzblatt bringen. Ich hoffe, dass dies noch vor den Landtagswahlen in den östlichen Bundesländern geschieht.
Es gibt ein berühmtes Beispiel für den Sinn der Bedürftigkeitsprüfung: Braucht die Zahnarztgattin wirklich eine Grundrente?
Buntenbach: Dieses Argument zieht nicht. Es gibt viel mehr Zahnarzthelferinnen, die auf die Grundrente angewiesen sind, als die immer wieder genannten Zahnarztgattinnen. Wir haben das mal durchrechnen lassen. Nur rund zehn Prozent derjenigen, die Anspruch auf die Grundrente hätten, leben in einem finanziell gut ausgestatteten Haushalt, bräuchten diese Rente also nicht. Die Politik – und zumindest Teile der Union tun dies – darf diese zehn Prozent aber nicht vorschieben, um die anderen 90 Prozent zum Sozialamt zu schicken und ihre Lebensleistung nicht anzuerkennen. Außerdem wäre die Zahnarztgattin über die Einkommensteuer zu erreichen. Die ist nämlich zu zahlen, wenn die Rente über dem Grundfreibetrag liegt.
Ist die Grundrente auch finanzierbar? Buntenbach: Ja, Hubertus Heil und Olaf Scholz haben vorgeschlagen, sie über die Finanztransaktionssteuer und die Streichung der Vergünstigungen für Hoteliers zu bezahlen. Das wäre gut – für uns ist dabei entscheidend, dass sie als Aufgabe, die die Gesellschaft insgesamt betrifft, auch aus Steuermitteln finanziert wird. Man darf hier nicht den Fehler
wiederholen, der bei der Mütterrente gemacht wird und in den Beitragstopf der Rentenversicherung greifen.
Bald sollen die Bürger mit 67 in Rente gehen, die Wirtschaft liebäugelt eher mit 69, weil die Bevölkerung älter wird. Ist das realistisch? Viele Bauarbeiter können schon mit 58 Jahren nicht mehr arbeiten...
Buntenbach: Das ist nicht realistisch und außerdem wäre es auch nicht gerecht. Viele Menschen schaffen es schon heute nicht, bis 65 gesund zu arbeiten. Viele müssen aus gesundheitlichen Gründen vorher aufhören, haben dann allerdings hohe Rentenabschläge in Kauf zu nehmen. So wird ihre Lebensleistung entwertet. Oft stürzen diese Menschen ab in Hartz IV oder müssen ihre Rücklagen aufbrauchen. Deshalb brauchen wir mehr Instrumente, um den Übergang zwischen dem Ende des Arbeitslebens und dem Anfang der Rente abzusichern. Ein höheres Renteneintrittsalter würde die Situation für die, die es nicht schaffen können, nur weiter verschärfen. Sie müssten mit noch höheren Abschlägen rechnen, Altersarmut wäre programmiert. Außerdem wäre es auch nicht fair, denn die
Lebenserwartung steigt eben nicht für alle gleich.
Was meinen Sie damit? Buntenbach: Die Menschen werden im Schnitt älter. Davon profitieren aber meist die, die auf der sonnigen Seite des Lebens stehen. Wer hart arbeitet – der Schichtarbeiter, die Altenpflegerin, der Busfahrer – hat oft weniger davon. Die Lebenserwartung ist eben geringer, da bleiben am Ende viel zu wenig gesunde Jahre. Das Renteneintrittsalter pauschal anzuheben, werden wir nicht mittragen. Wer freiwillig länger arbeiten kann und will, darf dies natürlich tun. Das ist aber eine andere Baustelle. Hier geht es um Gesundheitsförderung, Arbeitsschutz und gute Arbeitsbedingungen.
Ist es nicht ein Grundproblem, dass viele junge Leute nicht mehr der gesetzlichen Rente vertrauen? Buntenbach: Deshalb müssen wir die Vorteile der gesetzlichen Rente immer wieder erklären. Dafür brauchen wir nicht nur Werbeplakate, sondern Entscheidungen. Für junge Leute ist die private Versicherung keinesfalls der bessere Weg. Es ist teurer und unsicherer. Denn der Arbeitgeber zahlt nicht mit, die Versicherungswirtschaft verdient mit daran – und was am Kapitalmarkt am Ende rauskommt, ist unsicher. Das hat der Finanzmarktcrash 2008/09 übrigens auch gezeigt.
Würden Sie die Riester-Rente abschaffen wollen?
Buntenbach: Laufende Verträge brauchen sicher einen Vertrauensschutz. Klar ist, dass die gesetzliche Rente sich nicht durch private Vorsorge ersetzen lässt. Das funktioniert nicht, vor allem nicht bei Menschen mit niedrigem Einkommen. Diese Menschen kaufen lieber einen Wintermantel für das Kind, statt das wenige verfügbare Geld in eine private Versicherung zu stecken.
Könnte man zum Beispiel auch Beamte in die gesetzliche Rentenversicherung herüberholen?
Buntenbach: Wir müssen die Rentenversicherung breiter aufstellen. Es gibt viele Beschäftigungsverhältnisse außerhalb der Sozialversicherung, die miteinbezogen sein sollten: Minijobs, Solo-Selbstständige, Crowd-Worker und Werkverträge. Beamte einzubeziehen, kann nur auf lange Sicht und für die Zukunft gelten und nicht für jene, die ihr Erwerbsleben mit der Beamtenversorgung geplant haben. Dabei ist gerade für Beamte mit niedrigen Bezügen wichtig, dass das, was im Beamtendeutsch „Gebot der amtsangemessenen Versorgung“heißt, in jedem Fall sichergestellt sein muss. Ich finde aber, die Abgeordneten gehören hinein.
Die Abgeordneten, weshalb? Buntenbach: Die Bundestagsabgeordneten entscheiden, welche Regeln für die Rente in Zukunft gelten. Die Abgeordneten sollten deshalb nicht neben dem Rentensystem stehen, sondern Teil davon sein.
Interview: Michael Kerler