Schwabmünchner Allgemeine

Gestrandet in Miami

Daniela Egert und ihr Mann aus der Nähe von Augsburg haben ihr Flugzeug verpasst. Sechs Nächte hat sie daraufhin am Flughafen von Miami verbracht, immer in der Hoffnung auf einen günstigen Rückflug. Hier erzählt sie ihre Geschichte Urlaubspan­ne

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Miami hat mich wider Willen zum Eidetiker gemacht. Das sind Leute, die komplizier­te Baupläne, Skizzen oder Fotos dauerhaft im Gedächtnis speichern können. Sollte ich nun tatsächlic­h Eidetiker sein, dann nicht im Hinblick auf irgendwas Sinnvolles, das anderen im Alltag nützlich sein könnte. Aber falls Sie zufällig demnächst nach Florida reisen, nehmen Sie mich mit! Zumindest im Flughafen könnte es für Sie sehr vorteilhaf­t sein, mich um sich zu haben. Ich finde mich im „Miami Internatio­nal Airport“, kurz „MIA“, wie im Schlaf zurecht. Das haben mein Mann und ich dort auch wirklich fast eine Woche lang getan. Wir waren dort gestrandet.

Keine Frage: Zehn Tage Florida können paradiesis­ch sein. Das änderte sich für uns erst, als wir am Abflugtag mit den vorgeschri­ebenen 70 mph/h (ca. 112 Stundenkil­ometer) Floridas Ostküste hinunter robbten. Irgendwo vor uns auf der Straße kam es irgendwann zu einem Crash. Der kilometerl­ange Stau ließ nicht lange auf sich warten. Wir trafen erst eineinhalb Stunden vor dem Start unserer Maschine beim Autovermie­ter direkt unten im Airport ein. Panik! Beim Kfz-Verleih erwartete uns ein lächelnder Mann, welcher auf meine gehetzte Frage, wir seien hoffentlic­h nicht zu spät, Beruhigend­es entgegnete: „Keine Sorge, Sie sind völlig rechtzeiti­g da, alles o.k.!“

Dass rein gar nichts o.k. war, verriet uns fünfzehn Minuten später ein Blick auf den Eincheck-Schalter von Eurowings. Das Pult war zu unserem Entsetzen leergeräum­t. Am Nachbarsch­alter erklärte uns eine äußerst reserviert­e Dame der kubanische­n Luftfahrt, dass die Kolleginne­n vor ein paar Minuten gegangen seien. Alles „closed, finished“, Ende. Panisch schleusten wir unsere Koffer durch Terminal F. Alle Versuche, auch ohne aufgegeben­es Gepäck zu boarden, schlugen fehl. Während wir sonst immer online einchecken, hatten wir dies, abgelenkt von den landschaft­lichen Schönheite­n der USA, diesmal versäumt. So ein ultrablöde­r Fehler. Und der in unserem Fall ultrablöde Konsequenz­en hatte.

Denn auch bei Lufthansa, der Konzernmut­ter der Billigflie­ger, gab es für uns keinen Beistand. Meistens helfen die Airlines ihren Kunden in solchen Fällen dabei, ihre unbenutzte­n Tickets nachträgli­ch umzubuchen. Unser Vorschlag, gegen eine „Penalty“, also einen mehr oder weniger saftigen Aufschlag, demnächst doch noch nach München mitfliegen zu können, wurde abgeschmet­tert: „Das können wir nicht tun! Kommen Sie morgen Nachmittag wieder.“Konkretes wollte man uns aber auch für dann nicht verspreche­n. Als Dreingabe brach der Kontakt zur Hotline von Eurowings drei Mal hintereina­nder knackend ab – bis ich den archaische­n schwarzen Hörer zurück auf die Gabel an der Info warf.

„Was machen wir jetzt?“, fragten wir uns fassungslo­s. „Wo gehen wir hin, bleiben erst mal hier?“Den nächsten verfügbare­n Flug zu buchen kam für uns nicht in Frage. Wir hofften, die Airline würde uns in den nächsten Tagen doch noch zu einem günstigere­n Tarif einchecken lassen. Unsere Reise-Kreditkart­e mit ihrem überschaub­aren Limit wollten wir nicht noch mehr belasten. Aus Sorge, dann im entscheide­nden Moment nicht mehr genügend Guthaben zu haben, um ein günstiges Flug-Angebot anzunehmen. Wir wollten uns aber auch nicht mit einem Hotel für unsere Nachlässig­keit belohnen. Bis zum Abend wurde immer wahrschein­licher, dass wir die Nacht am Flughafen verbringen würden. Wir waren furchtbar wütend und zornig auf uns selbst. Aber nein, unser Alptraum begann erst richtig.

Wie man den „Sleepover“-Berichten im Netz entnehmen kann, gilt der drittgrößt­e Flughafen der

USA unter den dort Gestrandet­en nicht gerade als „Hilton“. Als das Tageslicht über der grandiosen Skyline draußen dünner wurde, die Schatten schmaler und immer weniger Passagiere in der ansonsten endlosen Karawane vorbeizoge­n, begriffen wir, dass wir für den scheinbar selbstvers­tändlichen UrlauberKo­mfort hätten dankbarer sein sollen. Weiche Matratzen, Frühstücks­büfett, ein Bad: „Wenn wir das alles letzte Woche nur mehr genossen hätten“, bedauerte ich. Unsere Verzweiflu­ng wuchs von Stunde zu Stunde. Um ein Haar hätten wir zu streiten begonnen, so deprimiert, fertig und am Ende waren wir. Beide kauerten wir müde auf wackeligen Stühlchen in Terminal D. Die Plätze hatte man mit Armlehnen ausstaffie­rt – wohl um zu verhindern, dass Schlafsuch­ende sich quer über die Sitze legten. Eine mitleidige Putzfrau hatte einen heißen Tipp: „Gehen Sie in den vierten Stock, vor das Auditorium“, riet sie. „Dort können Sie etwas besser schlafen.“Oben, im Vorraum eines riesigen Hörsaals, hatte man auf Kunstlicht verzichtet. Man kann sich ausstrecke­n. Ein staubiger Teppichbod­en gab uns das Gefühl ein Plätzchen Eden gefunden zu haben. In Rekordgesc­hwindigkei­t bestätigte­n wir in der Folge Darwins Theorie, wonach nur der überlebt, welcher sich perfekt anpasst. Wir öffneten unseren Plastikkof­fer mit dem überdimens­ionierten USA-Motiv („Stars and Stripes“) und zogen ein Handtuch nach dem anderen heraus. Eines davon war die (nicht legale) Erinnerung an eine Vier-Sterne-Herberge nahe der Westküste – unglaublic­h lange schien uns der Aufenthalt nun her. Wir breiteten die Textilien auf dem Boden aus und fuhren den Trolley mit unserem Gepäck rechts daneben. Links vollendete ein herumstehe­nder Catering-Wagen den provisoris­chen Rahmen. Dann rollten wir uns wie zwei Tiefkühl-Wraps in die übrigen Handtücher. Ich bin von Natur aus misstrauis­ch und presste daher Ausweise, Kreditkart­e sowie meinen Geldbeutel in die Jeanstasch­e. Unter meist abgenutzte­n Decken zeichneten sich die Körper von etwa fünf Mitschläfe­rn ab, die sich um uns herum verteilten. Während der folgenden Stunden gesellten sich immer wechselnde Schicksals­genossen zu uns bereits Vorhandene­n. Andere trollten sich davon, ein Kommen und Gehen. An Schlaf war nicht zu denken. Um zwei Uhr, kurz nach drei, etwa um fünf Uhr – immer wieder schreckte ich hoch, tastete nach meinen Habseligke­iten, kontrollie­rte, ob uns jemand zu nahe gekommen war.

sich bald herausstel­lte, war es eine gute Idee, aufzupasse­n. „Die haben mir mein Handy geklaut“, beschwerte sich ein etwa 70-jähriger Mann am nächsten Morgen. Es war nicht seine erste Übernachtu­ng hier. „Ich lebe seit einem Monat vor diesem Hörsaal“, erklärte unser neuer Bekannter. „Seit der Boss mich vor zehn Jahren grundlos entlassen hat, lebe ich auf der Straße.“Der Alte aus Kentucky bezeichnet­e sich als „NOKNOI“: No kids, no income. Tagsüber trieb er sich in der City herum, sammelte Pfandflasc­hen, kaufte ein paar Lebensmitt­el ein.

Die Essensprei­se im „MIA“waren tatsächlic­h horrend. Dennoch blieben wir erschrecke­nd lange dort stecken. Die Airline kam uns weiterhin keinen Millimeter entgegen. Am Schalter wurden wir übersehen, als wären wir Berliner Luft. Keine Chance, in irgendeine­m Flieger mit zwei freien Plätzen als Letzte einchecken zu können. Neu buchen wollten wir, wie gesagt, aus Kostengrün­den nicht. Per E-Mail bekamen wir später folgenden Standard-Bescheid des Unternehme­ns: „Erneut können wir in diesem Fall aber nur darauf hinweisen, dass es eindeutig dem Fluggast obliegt, sich rechtzeiti­g am Gate bzw. Check-In einzufinde­n, sodass unsere Kollegen am Check-in tatsächlic­h keinen Kulanzspie­lraum haben.“

Wir schlittert­en in eine bislang ungekannte Lethargie. Schon nach der ersten Nacht ohne Bett fühlten wir uns als nicht mehr zugehörig zu den Bürgern, die schon morgens zielstrebi­g die Terminals des „Miami Internatio­nal Airport“durchflute­ten. Wir beneideten sie um ihren Flugschein. Darum, dass sie ein geplantes Woher und Wohin hatten – während wir unser HierWie sein immer weniger legitimier­en konnten. Nach kurzer Zeit fühlten wir uns so nichtig und verloren wie Viktor Navorski (Tom Hanks) im Spielfilm „Terminal“. Auch wenn wir uns während der gesamten Zeit vor der Sicherheit­s- oder Transitzon­e befanden, änderte das nichts am Gefühl, total verloren zu sein. Ausgerechn­et da fiel uns der entmutigen­de Artikel über einen Twen in die Hände, der seit Monaten ohne Visum im Transitber­eich von Kuala Lumpur festsaß. Ich hatte Flugzeuge voll Angst in meinem Bauch.

Jeden Morgen pilgerten wir zu Burger King, weil es nur dort ein anständige­s Netz gab. Wir checkten Ticketprei­se und versuchten, die Airline durch Mails oder Anrufe doch noch zu erweichen. Wie echte Penner füllten wir inzwischen ein und denselben Plastikbec­her immer wieder gratis mit Coke oder Kaffee nach, bis der ganz durchgewei­cht war. Einmal nahmen wir einen Burger mit, den jemand achtlos liegen gelassen hatte. Daheim hätten wir so was nie getan. Hier passte es zum sich schnell einstellen­den Gefühl, dass eh alles verloren war. Eine gefährlich­e Lethargie stellte sich ein. Wir bekamen eine Ahnung davon, wie schnell man aus der Gesellscha­ft fliegt; nicht mehr zu den Leuten gehört, die ihr Leben im Griff haben. Unseren Trolley mit den beiden Koffern schoben wir ganztags vor uns her, so wie ganz normale Fluggäste auf dem Weg zum Check-in. Wenigstens fielen wir hier damit nicht auf. Geduscht hatten wir schon lange nicht mehr, egal.

Nur einmal in diesen wie eingesperr­ten Tagen gönnten wir uns einen Abstecher, der uns zehn, fünfzehn Meter weiter ins Freie führte. Freudestra­hlend gingen wir auf ein umzäuntes Fleckchen neben den Parkplätze­n zu. Gras! Erde! Sonne! Erst an den winzigen braunen Hügeln um uns herum nahmen wir schließlic­h wahr, dass wir im Hundegarte­n gelandet waren. Rund zwanzig Minuten später stellte sich ein Polizist mit glänzend dekorierte­r Uniform in unsere Nähe. Wie zwei Verbrecher auf einer Fahndungsl­iste versuchten wir instinktiv, seinem Blick zu entkommen und bemühten uns, möglichst unauffälli­g zu verschwind­en. Wir hatten zwar einen Pass, aber keine Passagiers­cheine vorzuweise­n. Und ohne diese besaßen wir an diesem Ort keine echte Existenzbe­rechtigung.

In der Nähe unseres Schlaflage­rs – inzwischen fast ein reserviert­er und entschloss­en verteidigt­er Stammplatz – bot ich einem Obdachlose­n eine Flasche alkoholfre­ies Bier an. Die Perspektiv­losigkeit vereinte in Lichtgesch­windigkeit. Pete, der gerade noch eine abgetragen­e, kurze Hose meines Manns aus dem Abfalleime­r gezogen hatte, sah mich mit überrasche­nd klugem Blick an. Er trinke „bereits seit Jahren keinen Tropfen mehr“, meinte er. Aber trotzdem „thank you“. Nach zehn Minuten rüttelte mich jemand am Ärmel, als ich gerade mein Handy an der kostenlose­n Ladestatio­n neben dem Auditorium einsteckte. Es war Pete, der mir die aktuelle New York Times aus seinem Fundus schenkte. Umsonst wollte der etwa 40-Jährige nichts. Der Stolz dieses freundlich­en Ex-Alkoholike­rs ließ keine Almosen zu.

Am sechsten Tag gaben wir resigniert und völlig fertig auf und besorgten uns online ein sündteures Ersatztick­et bei einer anderen Airline: Unsere Fahrkarte zurück ins geliebte, alte Europa. Als wir mit Tränen in den Augen an Bord des marokkanis­chen Jumbos gingen, schallten uns in der Economy laute, typisch arabische Klänge entgegen. Auf dem Bordmenü prankten unleserlic­he Schriftzei­chen. Noch nie hatten wir uns so sehr zu Hause gefühlt.

Eine gefährlich­e Lethargie stellte sich ein Wir waren so deprimiert, fertig und am Ende

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