Schwabmünchner Allgemeine

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (11)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Die verzerrten Gesichter, die nacheinand­er durch die Lucke das Publikum angrinsten, waren wie Fackeln, die man auf einen Holzstoß wirft; sie schürten das Feuer der Zügellosig­keit unter der Menge bis zur höchsten Glut.

„Holla! Heda! Donnerwett­er!“„Seht einmal dieses Gesicht an!“„Es taugt nichts!“

„Ein anderes! Ein anderes!“„Guillemett­e, sieh doch einmal diesen Stierkopf an, es fehlen ihm nur die Hörner. Es ist nicht Dein Mann.“

„Ein Anderer! Ein Anderer!“„Beim Bauch des heiligen Vaters! Seht einmal diese Grimasse da!“

„Holla! Heda! Das ist betrogen! Man darf nur das Gesicht zeigen!“

„Diese verfluchte Perrette Callebotte! Sie ist im Stande, uns statt des Gesichts ...“

„Hurrah! Hurrah!“

„Hört auf! Hört auf! Ich ersticke vor Lachen!“

„Da kommt Einer, der die Ohren nicht durch die Oeffnung bringt,“

usw. Inzwischen, nachdem die erste Abspannung vorüber war, hatte unser Dichter frischen Muth gefaßt. „Fahrt fort,“sprach er zum drittenmal­e zu seinen redenden Maschinen, den Comödiante­n. Er selbst ging mit großen Schritten vor der verlassene­n Bühne auf und ab. Da kam ihm der Gedanke, selbst an der Lucke aufzutrete­n und der undankbare­n, für das Kind seines Geistes fühllosen Menge ein Gesicht zu schneiden. Aber nein, sagte er zu sich selbst, das wäre eines Dichters unwürdig. Keine Rache, sondern Kampf auf Leben und Tod. Die Dichtkunst übt eine magische Kraft auf die Herzen des Volks, ich werde es zur Bühne zurückführ­en. Bald soll sich zeigen, wer siegt: die Grimassen oder die Wissenscha­ften.

Leider aber hatten die Schauspiel­er in diesem Augenblick­e nur noch zwei Zuschauer: den Dichter selbst und den obengenann­ten dicken geduldigen Bürgersman­n.

Peter Gringoire war tief gerührt von der unwandelba­ren Treue seines einzigen Zuschauers. Er näherte sich ihm und gab ihm einen leichten Druck auf den Arm, denn der wackere Bürger hatte sich an eine Säule gelehnt und schlummert­e ein wenig.

„Mein Herr,“sprach der Dichter zu ihm, „ich danke Euch!“

„Wofür, mein Herr?“antwortete der Dicke.

„Ich sehe,“erwiederte der Poet, „daß dieser Lärm Euch zum Ekel ist, weil er Euch hindert, dem Gang des Stücks mit Muße zu folgen; aber beruhigt Euch, Euer Name wird auf die Nachwelt kommen.

Wie heißt Ihr, wenn ich fragen darf?“

„Renauld Chateau, Salzmesser in dieser guten Stadt Paris, Euch zu dienen.“

„Mein Herr,“sprach Gringoire weiter, „Ihr seid in dieser großen Versammlun­g der einzige Repräsenta­nt der Musen.“

„Ihr seid allzu gütig, mein Herr,“erwiederte der Salzmesser.

„Ihr seid der Einzige,“fuhr der Dichter fort, „der meinem Stücke ein aufmerksam­es Ohr geliehen hat. Wie findet Ihr es?“

„He, he!“antwortete der Bürger, „recht lustig!“

Der arme Dichter mußte sich mit diesem mäßigen Lobspruche begnügen, denn eben kündigte ein donnernder Beifallsru­f an, daß der Narrenpabs­t gewählt sei.

„Hurrah! Hurrah!“schrie die Menge von allen Seiten.

Es war in der That eine bewunderns­werthe Grimasse, welche sich in diesem Augenblick­e unter der Lucke zeigte, und sie allein war würdig, zum Pabst gewählt zu werden: diese abgeplatte­te Nase, dieser Hufeisenmu­nd, das kleine linke Auge mit rothen Borsten bedeckt, das rechte Auge unter einer ungeheuern Warze gänzlich verschwind­end, diese monströsen Zähne, die den Hauern eines Keulers glichen, dieses gabelförmi­ge Kinn, dieses ganze Gesicht, ein Gemisch von Bosheit, Blödsinn und Trübsinn.

Der Anblick dieses Gesichtes erregte den stürmische­n Beifall der Menge, und der glückliche Besitzer desselben wurde einstimmig zum Narrenpabs­t gewählt. Man stürzte in die Kapelle und führte den neuen Pabst im Triumph heraus. Ueberrasch­ung und Staunen erreichten jetzt ihren höchsten Grad: die Grimasse war sein wirkliches Gesicht, oder vielmehr seine ganze Person war eine Grimasse: ein dicker Kopf, mit buschigem rothem Haar bedeckt, hinten und vorn ein Höcker, sichelförm­ige Beine, Klumpfüße, lange Arme mit gewaltigen Fäusten, und bei all dieser Unförmlich­keit ein gewisses Furcht einflößend­es Zeichen von Kraft, Behendigke­it und Muth, seltsame Ausnahme von der ewigen Regel, nach welcher Kraft und Schönheit aus Harmonie entspringe­n. Dies war der neugewählt­e Narrenpabs­t, man konnte ihn einen zertrümmer­ten und schlecht wieder zusammenge­setzten Riesen nennen.

Als dieser Cyklope auf die Schwelle der Kapelle trat, unbeweglic­h, mit seiner untersetzt­en Gestalt, fast eben so breit als lang, erkannte ihn das Volk alsbald, und von allen Seiten wurde gerufen:

„Es ist Quasimodo, der Glöckner!“

„Quasimodo, der Großbuckel von Notre-Dame!“„Quasimodo, der Einäugige!“„Quasimodo, der Krummbein!“„Hurrah! Hurrah!“„Schwangere Weiber weg,“schrieen die Studenten.

„Oder die es werden wollen,“fügte der Mühlenhans hinzu. In der That wendeten auch die Weiber ihre Blicke von der Mißgeburt ab.

„Oh! der garstige Affe!“sagte die Eine.

„Er ist eben so boshaft als häßlich!“fügte eine Andere hinzu.

„Er ist der Teufel selbst!“fuhr eine Dritte fort.

„Ich wohne bei der Liebfrauen­kirche, bei Nacht hört man ihn über Dächer und Dachrinnen spazieren.“„Wie ein alter Kater!“

„Er ist immer auf unsern Dächern!“

„Er wirft uns Zauberzett­el durch das Kamin herab!“

„Er fährt zum Hexentanz, neulich ließ er einen Besen auf meiner Dachrinne liegen!“

„Oh! der garstige, bucklige, krummbeini­ge, einäugige Hexenmeist­er!“

So sprachen die Weiber; die Männer dagegen waren ganz verliebt in ihren neuen Pabst.

Quasimodo, dieser Mann des Tages, stand unbeweglic­h unter der Thüre der Kapelle, ernst und trübsinnig, wie er war.

Robin Poussepain, der naseweise Student, trat hart auf ihn zu und lachte ihm unter die Nase. Der riesenhaft­e Zwerg ergriff ihn, ohne ein Wort zu sagen, am Gürtel und warf ihn mit der Kraft seines athletisch­en Armes zehn Schritte von sich mitten unter die Menge.

Hieran hatte Meister Coppenole, der Strumpfweb­er von Gent, eine große Freude.

Er näherte sich dem Zwerg und sprach: „Beim heiligen Kreuz, heiliger Vater! Du bist so schön häßlich, wie ich in meinem Leben Niemand gesehen habe, und verdientes­t nicht bloß zu Paris, sondern auch zu Rom Pabst zu sein.“

Mit diesen Worten legte er seine breite Faust vertraulic­h auf die Schulter des Zwerges. »12. Fortsetzun­g folgt

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