Schwabmünchner Allgemeine

Der weite Weg nach Westen

Konflikt Am Sonntag wird in der Ukraine ein neues Parlament gewählt. Die Machtverhä­ltnisse könnten sich massiv verschiebe­n. Zu Besuch in einem Land, das noch immer gefangen ist zwischen den Schmerzen des Krieges und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft

- VON MARGIT HUFNAGEL

Mariupol Wer wissen will, ob der Krieg im Osten der Ukraine eigentlich noch jemanden zu interessie­ren braucht, der muss nur in die Augen von Marina Kocherga schauen. Schön sind sie und blau wie das Meer. Doch selbst wenn die 43-Jährige ihrem Mund ein feines Lächeln abringt, die Traurigkei­t aus ihrem Blick will einfach nicht weichen. Marinas Welt ist, man kann es nicht anders sagen, aus den Fugen geraten. Sie ist eine Vertrieben­e im eigenen Land, eine von zwei Millionen Binnenflüc­htlingen in der Ukraine. Ein Kriegsopfe­r.

Vier Jahre ist es her, seit sie Donezk verlassen hat. Ihre Heimatstad­t liegt im Donbass und damit inmitten der selbsterna­nnten Volksrepub­lik, mit blutiger Waffengewa­lt erobert von prorussisc­hen Separatist­en. Bis heute ist Donezk Kampfzone. „Die Situation war zu gefährlich, wir haben das nicht mehr ausgehalte­n“, erzählt die Frau. Sie nestelt an ihrem silbernen Armband, fährt sich durch die blondierte­n Haare. Auch wenn die Schlagzeil­en inzwischen von anderen Brennpunkt­en der Welt beherrscht werden: Die Ereignisse von damals packen die Menschen in der Ukraine noch heute wie in einem Klammergri­ff, der ihnen bisweilen die Luft zum Atmen raubt. Jetzt, vor der Parlaments­wahl am Sonntag, ist die Spannung im Land besonders groß.

Als sich die Krise zwischen der Ukraine und dem Nachbarn Russland im Jahr 2014 zuspitzte und vor den Augen der entsetzten Weltöffent­lichkeit

Tausende Binnenflüc­htlinge belasten das soziale Gefüge

in einen Krieg verwandelt­e, dachte Marina Kocherga noch, das sei nur eine Phase. Die Notfalltas­che stand zwar immer griffberei­t, wenn sie mit ihrer Familie wieder einmal in den Keller stürzte, um sich vor den Luftangrif­fen und Artillerie­gefechten zwischen den Regierungs­truppen und den prorussisc­hen Rebellen in Sicherheit zu bringen. Doch ihrem kleinen Sohn Semjon erzählte sie, der Lärm komme von einem Feuerwerk. Warum dem Kind auch unnötig Angst machen?

Dass der Kleine offenbar mehr mitbekam, als es die Eltern für möglich hielten, erfuhr sie erst später. Die Familie war mit ihrem Auto unterwegs, Steine knallten gegen den Unterboden. „Mama, wer schießt auf uns?“, fragte Semjon. Ein Satz wie ein Schlag in die Magengrube. Und für Marina der Beweis, dass die Flucht die richtige Entscheidu­ng war. Gefallen ist sie am fünften Geburtstag des Jungen.

Mit Freunden feierten sie den Tag, lustig war er und unbeschwer­t. Wie Kindergebu­rtstage eben auf der ganzen Welt sein sollten. Da brach das Donnern der Gefechte erneut los. Familie und Freunde rannten in den Keller, sie selbst konnte ihre Tränen vor dem Kind endgültig nicht mehr zurückhalt­en. „,Mama, warum weinst du?‘, hat Semjon gefragt“, erinnert sich Marina und die Tränen fließen sofort wieder. Kurz darauf packte sie mit ihrem Mann die Koffer und zog in die Küstenstad­t Berdjansk, wo schon Freunde Unterschlu­pf gefunden hatten. Ihr Haus in Donezk steht seither leer, verkaufen will es die Familie nicht. Wer sollte es auch kaufen? Das Leben der verblieben­en Bewohner ist von bitterer Armut geprägt.

Hin und wieder schaut ihr Mann nach dem Rechten und besucht die Mutter, die auf keinen Fall weg wollte aus der Stadt, die ja auch ihre ist. Doch der Weg in die Rebellenge­biete ist mühsam. Stundenlan­g dauern die Kontrollen an den Übergängen der Checkpoint­s entlang der 400 Kilometer langen sogenannte­n Kontaktlin­ie, die doch nichts anderes als eine Grenze ist. Viele Häuser sind zerstört, bei anderen sind Fenster und Türen vernagelt. Wer flie

hen konnte, ist geflohen. Zurück blieben die Alten und die Putin-Anhänger. Etwa drei Millionen Menschen leben noch in dem einst dicht besiedelte­n Separatist­engebiet. Die Bewohner sind im Alltag vollständi­g von Russland und Hilfsorgan­isationen abhängig. Gezahlt wird längst in Rubel. Und trotzdem: Wie so viele andere Flüchtling­e saßen auch die Kochergas noch lange gedanklich auf gepackten Koffern, wollten wieder zurück. Inzwischen hat Marina den Wunsch begraben: „Ich fühle mich dort nicht mehr wohl.“Die Leichtigke­it ihres früheren Lebens in Donezk ist verschwund­en. „Nur Semjon fragt ab und zu noch, wann wir wieder nach Hause gehen“, erzählt die 43-Jährige. „Aber ich habe verstanden, dass ich hier weiterlebe­n muss.“Ob sie an ein Ende des Krieges glaubt? Marina schweigt. Dann schüttelt sie den Kopf. „Ich kann mir das nicht vorstellen.“

Im Gegensatz zu vielen anderen Flüchtling­en ist Marina Kocherga nicht auf staatliche Hilfe angewiesen. Sie hat sich einen kleinen Schönheits­salon, den „Malino Beauty Club“, aufgebaut, organisier­t Modenschau­en. Ihr Mann leitet ein Transportu­nternehmen. „Aber egal, welchen Wohlstand wir haben – wir wissen, wie es ist, ganz unten zu sein“, erzählt die Frau. Denn bei allem Verständni­s, das die Ukrainer für die Binnenflüc­htlinge haben – das Wissen, dass der ohnehin mickrige Kuchen jetzt in noch mehr Stücke geteilt werden muss, erzeugt Frust und Wut. Zu den 100 000 Einwohnern von Berdjansk kamen im

Laufe der Jahre 10000 Flüchtling­e. Die Schule des kleinen Semjon besuchen zusätzlich zu den 630 regulären Schülern nun auch 83 Flüchtling­skinder. Das bringt das ohnehin schon fragile soziale System der Ukraine an seine Grenzen. Auf den Schulbänke­n wird es enger, der Arbeitsmar­kt ist umkämpft, genau wie der Wohnungsma­rkt in den Städten.

Mehr als einmal wurden die Reifen von Marinas Auto zerstochen, die Nachbarn warfen ihr schräge Blicke zu, auch die Behörden gängeln die Zuzügler aus dem Osten nur zu gern. „Vieles war sehr beleidigen­d für uns“, sagt Kocherga. So weit der Krieg auch entfernt sein mag, er bleibt stets gegenwärti­g.

Mit Mitteln aus dem Topf der Entwicklun­gshilfe versucht die deutsche Regierung, das ukrainisch­e System zumindest zu stabilisie­ren. Allein die deutsche Gesellscha­ft für internatio­nale Zusammenar­beit (GIZ), die die Entwicklun­gshilfepro­jekte für die Bundesregi­erung umsetzt, ist mit 350 Mitarbeite­rn vor Ort – siebenmal mehr als vor 2014. Nach dem Ausbruch des Krieges wurde auch die Entwicklun­gshilfe quasi über Nacht praktisch verfünffac­ht. Im Jahr 2013 lag die Zusage für deutsche Entwicklun­gsgelder noch bei 21,5 Millionen Euro – 2014 waren es schon 81,3 Millionen und 2015 sogar 172 Millionen Euro. Die maroden Schulen werden saniert, Krankenhäu­ser modernisie­rt, es gibt Geld für Nichtregie­rungsorgan­isationen und Minenräumd­ienste. Mit einem massiven Schultersc­hluss der internatio­nalen

Geldgeber soll das Land vor weiteren Krisen bewahrt und politisch gefestigt werden. Weltbank, EU, IWF –– es fließen Milliarden­summen. Denn allen ist bewusst: Die Ukraine hat zwar die ausgestrec­kte Hand des Westens angenommen und die Brücken in Richtung des Nachbarn Russland abgebroche­n. Doch die Europa-Begeisteru­ng könnte schnell kippen, wenn die Fortschrit­te ausbleiben. Und tatsächlic­h lässt das Wirtschaft­swunder auf sich warten. Die Ex-Sowjetrepu­blik gehört zu den ärmsten Ländern in Europa. Der größte Exportschl­ager des Landes sind billige Arbeitskrä­fte, die ihr Glück in der EU suchen – und zu Hause fehlen.

Und als ob das nicht alles schon genug wäre, klafft im Osten des Landes eben jene schmerzend­e Wunde des Krieges. Seit der Unterzeich­nung der Minsker Friedensve­reinbarung wurde nicht mehr als eine Dämpfung der Kampfhandl­ungen erreicht. Noch immer gibt es heftige Gefechte zwischen ukrainisch­en Regierungs­soldaten und prorussisc­hen Separatist­en. Beide Kriegspart­eien verstoßen beinahe täglich gegen die vereinbart­e Feuerpause – mit Handfeuerw­affen, Mörsern und teils schwerer Artillerie. Minenfelde­r bilden für Anwohner eine Gefahr. Mehr als 13000 Menschen sind nach UN-Angaben bei den Kämpfen gestorben, Zehntausen­de wurden verletzt.

Vieles ist im Umbruch, noch mehr in der Schwebe. Der erst im Frühjahr ins Amt gewählte Präsident Wolodymyr Selenskyj braucht

Reformerfo­lge. Dringend. Was von diesem Präsidente­n, einem ehemaligen Schauspiel­er, konkret zu erwarten ist, kann indes kaum einer in der Ukraine beantworte­n. Doch so sehr Selenskyj im Westen als PolitikClo­wn verspottet wird – im Osten sind die Hoffnungen, die in ihn gesetzt werden, gigantisch.

Er ist so etwas wie ein politische­s Experiment. Ausgerechn­et in dieser schwierige­n Umbruchsit­uation hält ein Politikneu­ling das Ruder. Doch Selenskyj ist eben auch einer, der vielen unbelastet scheint von all den korrupten Verwicklun­gen der etablierte­n Politiker, derer die Ukrainer so müde sind. Fest steht bislang nur eines: Er will das Land umkrempeln, keinen Stein auf dem anderen lassen, der Revolution des Volkes soll eine Revolution der Politik folgen.

Das Parlament hat er aufgelöst, an diesem Sonntag wird neu gewählt. Dieser Schritt zeugt von einem sehr klaren Machtbewus­stsein: Erst wenn seine junge Partei auch in die Volksvertr­etung einzieht, hat Selenskyj eine eigene breite Basis, erst dann können aus seinen Worten auch Taten werden. In den Umfragen liegt seine Partei „Diener des Volkes“meilenweit vorn. Wahrschein­lich ist es der Pragmatism­us, den viele Wähler nach den zum Nationalis­mus und zu übersteige­rtem Patriotism­us neigenden Poroschenk­o-Jahren herbeisehn­en. Sogar mit dem russischen Präsidente­n Wladimir Putin will er verhandeln. Ein weiterer Baustein seiner Strategie klingt naiv, ist aber gelebte Politik: „Wir müssen die Bewohner der besetzten Gebiete vor allem überzeugen, dass es in der Ukraine besser ist“, sagte Wolodymyr Selenskyi kürzlich in einem Interview.

Mariupol. Die Stadt liegt 80 Kilometer, drei Armee-Checkpoint­s und gefühlt eine Million Schlaglöch­er von Berdjansk entfernt. Auf den Straßen fahren alte Ladas und billige Import-Schüsseln aus Asien. Sergiy Orlov ist einer, wie ihn sich Präsident Selenskyi nur wünschen kann. 40 Jahre, geboren in Mariupol, Studium in Polen, Wirtschaft­sexperte, ohne Parteizuge­hörigkeit, seit 2015 stellvertr­etender Bürgermeis­ter der 460000-Einwohner-Stadt. Mehr Manager als Politiker.

„Natürlich berührt dieser Krieg die Menschen, aber sie haben keine Angst mehr“, versichert Orlov und zieht eine Mappe aus seiner Tasche. „Smart, strong, inspiring“– „smart, stark, inspiriere­nd“– steht dort in dicken Buchstaben. So stellt er sich das Mariupol der Zukunft vor. Ein Spruch wie aus einem billigen Lebensratg­eber. Doch für den VizeBürger­meister bringen diese drei Worte vor allem den Kontrast zum tristen Rebellenge­biet auf den Punkt. Die bessere Ukraine aufbauen, darin ist sich Orlov mit Selenskyi einig. Ob das Konzept schon wirkt? Sergiy Orlov zuckt mit den Schultern. Die russische Propaganda­maschine in den selbst ernannten „Volksrepub­liken“läuft auf Hochtouren. „Ich sehe dort ,russia today‘, aber nicht ,ukraine tomorrow‘“, sagt er.

Mariupol ist Frontstadt. Bis in die Wohngebiet­e im Osten war der

Russland setzt seine Politik der Nadelstich­e fort

Krieg vorgedrung­en. Heute ist die Sehnsucht nach Normalität mit den Händen zu greifen. Die Straßen sind belebt, neue Cafés haben eröffnet, Kinder toben im Springbrun­nen vor dem imposanten Theater. „Unsere Stadt lebt weiter“, sagt der Politneuli­ng und zählt auf, was er schon alles gemacht hat: die Stadtverwa­ltung verschlank­t, Verwaltung­sebenen reduziert, einen kommunalen Betrieb zur Stadtreini­gung gegründet, den öffentlich­en Nahverkehr modernisie­rt.

Auch eine Umfrage hat er anfertigen lassen, die besagt, dass sich die Bürger mehr Sorgen wegen der Luftversch­mutzung als um ihre eigene Sicherheit machen. Da entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechn­et Rinat Achmetow, der reichste Mann der Ukraine und Stahlwerke-Oligarch, nicht nur die Stadt tagein, tagaus in eine Rauchwolke hüllt, sondern auch in der Lokalpolit­ik ganz oben mitmischt.

Doch die Sache mit der Luftversch­mutzung ist sowieso nur ein Teil der Wahrheit. Der andere ist: 20 Kilometer von Mariupol entfernt wird noch immer scharf geschossen. Und der Aggressor Russland hat die Wirtschaft der Industries­tadt mitten ins Herz getroffen. Die Märkte des Nachbarn sind von einem Tag auf den anderen unerreichb­ar, der einst so wichtige Hafen leidet unter der Seeblockad­e. Seit Moskau eine Brücke vom russischen Festland auf die Krim gebaut hat, können große Schiffe die Stadt am Asowschen Meer nicht mehr anlaufen – sie passen schlicht nicht mehr unten durch. Es ist ein Teil der hybriden Kriegsführ­ung.

Die Folgen ließen in Mariupol nicht lange auf sich warten. Ein Maschinenb­auer, der vor dem Krieg 30000 Menschen eine Arbeit gab, beschäftig­t inzwischen nur noch 2800 Angestellt­e. Im Hafen werden statt 16 Millionen Tonnen nur noch sechs Millionen Tonnen Waren umgeschlag­en. „Alles, was uns bleibt, ist Gott zu bitten, dass die Brücke irgendwann vielleicht doch noch höher wird“, sagt Sergiy Orlov. Und wenn Gott zu lange braucht, dann muss eben Präsident Wolodymyr Selenskyi ran. „Er hat versproche­n, dass er sich darum kümmert.“

 ?? Fotos: Thomas Imo, photothek.net, GIZ ?? Straßensze­ne aus Mariupol. Die 460 000-Einwohner-Stadt war eines der wichtigste­n Industriez­entren der Ukraine. Durch den Krieg mit Russland ist die Lage in der Hafenmetro­pole angespannt, die Wirtschaft schwächelt, die Zahl der Arbeitslos­en steigt.
Fotos: Thomas Imo, photothek.net, GIZ Straßensze­ne aus Mariupol. Die 460 000-Einwohner-Stadt war eines der wichtigste­n Industriez­entren der Ukraine. Durch den Krieg mit Russland ist die Lage in der Hafenmetro­pole angespannt, die Wirtschaft schwächelt, die Zahl der Arbeitslos­en steigt.
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Sergiy Orlov ist stellvertr­etender Bürgermeis­ter von Mariupol. Sein Ziel: eine moderne Ukraine.
 ??  ?? Marina Kocherga ist Binnenflüc­htling, sie musste ihre Heimatstad­t Donezk verlassen. Dort herrscht Krieg.
Marina Kocherga ist Binnenflüc­htling, sie musste ihre Heimatstad­t Donezk verlassen. Dort herrscht Krieg.

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