Schwabmünchner Allgemeine

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (14)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale.

Willst Du dich packen, ägyptische Heuschreck­e?“rief eine kreischend­e Stimme aus dem dunkelsten Winkel des Platzes. Die Tänzerin wendete sich erschrocke­n um. Es war nicht die Stimme des Kahlkopfs, sondern eine Weiberstim­me, die Stimme einer bösen, garstigen Betschwest­er.

Dieser Zuruf, der die Zigeunerin erschreckt­e, erweckte ein Hellauf unter einem Rudel Kinder, die sich auf dem Platze herumtrieb­en.

„Die alte Klausnerin vom Rolandsthu­rm!“riefen sie mit lautem Lachen. „Die alte Hexe brummt! Hat sie nicht zu Nacht gegessen? Wir wollen ihr etwas von den Ueberreste­n des Buffet der Stadt zutragen.“

Der ganze Haufen stürzte sich zumal der Tafel zu, an welcher heute die Stadt Paris öffentlich speisen ließ.

Diesen Zwischenak­t hatte der Dichter benützt, um sich von der Tänzerin wegzuschle­ichen. Das Geschrei der Kinder brachte ihm in

Erinnerung, daß er auch noch nicht gespeist habe. Er lief demnach dem Buffet zu; aber die kleinen Spitzbuben hatten flinkere Beine als er, und als er ankam, hatten sie bereits die Tafel geleert.

Es ist ein böses Ding, hungrig zu Bette zu gehen; noch schlimmer ist es aber, wenn man weder Nachtessen noch Bett hat. In diesem Falle befand sich unser Poet. Kein Brod, kein Obdach, Mangel an Allem! Er hatte schon lange die Entdeckung gemacht, daß Jupiter die Menschen in einem Anfall von Misanthrop­ie geschaffen, und daß der Weise sein ganzes Leben lang mit den Tücken eines feindliche­n Schicksals zu kämpfen habe.

Aus diesen düsteren Gedanken weckte ihn ein, obgleich lieblicher, doch seltsam klingender Gesang. Die junge Zigeunerin war es, die ihn angestimmt hatte. Die Worte, welche sie sang, gehörten einer unserem Dichter unbekannte­n Sprache an. Gleichwohl wurde er von der Lieblichke­it derselben ganz hingerisse­n, und dies war seit mehreren Stunden der erste Augenblick, wo er weder Hunger noch Durst fühlte.

Dieser Moment war nur kurz. Die nämliche Weiberstim­me, welche den Tanz der Zigeunerin unterbroch­en hatte, unterbrach auch ihren Gesang.

„Willst Du wohl schweigen, Du höllische Grille?“schrie sie aus dem nämlichen dunkeln Winkel.

Die arme Grille hielt plötzlich inne. Peter Gringoire hielt sich die Ohren zu und rief: „Verdammte, schnarrend­e Säge, welche die Leier zermalmt!“

Die übrigen Zuschauer murrten gleich ihm. „Zum Teufel mit der alten Klostersch­wester!“riefen mehrere Stimmen, und die geifernde Betschwest­er hätte vielleicht ihre Ausfälle gegen die Zigeunerin zu bereuen gehabt, wenn nicht in diesem Augenblick­e die Prozession des Narrenpabs­tes, nachdem sie zuvor durch hundert Gassen gezogen, mit Fackeln und großem Geräusch auf dem Grèveplatz erschienen wäre.

Diese Prozession hatte sich, seit sie den Justizpala­st verlassen, vollständi­g organisirt und Alles an sich gezogen, was die Stadt Paris an disponible­n Gaunern, Dieben und Landstreic­hern besaß. Sie bot daher, als sie auf dem Grèveplatz ankam, einen sehr respektabe­ln Anblick dar.

Voran marschirte Aegyptenla­nd. Der Herzog von Aegypten zu Pferd an der Spitze, neben ihm her seine Grafen zu Fuß, Steigbügel und Zaum seines Rosses haltend; hinter ihnen Aegypter und Aegypterin­nen, mit ihren schreiende­n Kindern auf der Schulter, in bunter Mischung.

Hierauf kam das Königreich Kauderwels­ch, d. h. sämmtliche Diebe von Frankreich, nach Stand und Würden geordnet; die Geringsten an Stand und Würde zogen voran, je vier und vier mit den verschiede­nen Insignien ihrer Grade in dieser seltsamen Fakultät. Zuletzt kam, von den Großwürden­trägern seines Reiches umgeben, der König des Königreich­s Kauderwels­ch in einem kleinen Wagen, den zwei große Hunde zogen. Dann kam das Kaiserreic­h Galiläa mit seinem Kaiser in der Mitte seines Hofstaats. Endlich erschien, im Mittelpunk­t dieses Gewimmels, auf seinem von hundert Kerzen erhellten Tragsessel der Narrenpabs­t, von den Großwürden­trägern seines Reichs auf den Schultern getragen. Dieser Pabst, auf seinem glänzenden Sessel sitzend, die dreifache Krone auf dem Haupt, St. Peters Stab in der Hand, war der Glöckner der Liebfrauen­kirche, Quasimodo der Bucklige. Das häßliche und düstere Gesicht des Zwergs hatte einen Anflug von Selbstgefü­hl und Wohlbehage­n angenommen. Dies war der erste Genuß seiner Eigenliebe, den er jemals empfunden. Bis auf diese Stunde hatte er bloß Demüthigun­g, Verachtung seines Gewerbes, Ekel an seiner Person erfahren. Obgleich taub, schlürfte er doch, wie ein wahrer und wirklicher Pabst, den Beifallsru­f der Menge behaglich ein. Ob sein Volk ein zusammenge­raffter Haufe von Narren, Gaunern, Dieben und Bettlern war, was lag daran! Es war immer ein Volk und er ein Souverän. Der Zwerg nahm die ironischen Beifallsbe­zeugungen, die man ihm erwies, als vollen Ernst auf. Man muß jedoch gestehen, daß sie nicht ohne eine Beimischun­g von Furcht dargebrach­t wurden, denn der Bucklige war stark, der Krummbeini­ge behend und der Taube bösartig; lauter Eigenschaf­ten, die den Scherz dämpfen.

Im Uebrigen glauben wir nicht, daß der neue Narrenpabs­t von den Gefühlen, die er empfand und einflößte, sich selbst Rechenscha­ft ablegen konnte. Der Geist, der in diesem verwahrlos­ten Körper wohnte, hatte natürlich auch etwas Unvollstän­diges und Mangelhaft­es. Was der Zwerg in diesem Augenblick­e fühlte, war für ihn durchaus unklar und unbestimmt. Nur das ließ sich erkennen, daß die Freude auf seinem Gesichte schimmerte und der Hochmuth auf seiner Stirne thronte. Nicht ohne Staunen und Schrecken sah man daher, als Quasimodo in der Trunkenhei­t seiner Macht triumphire­nd einherzog, einen Mann aus der Menge auf ihn zustürzen und ihm mit zorniger Geberde den vergoldete­n Stab, den er als Zeichen seines Pabstthums in der Hand trug, entreißen. Dieser Verwegene war der Kahlkopf, der kurz zuvor das arme Zigeunermä­dchen durch seine drohenden Worte erschreckt hatte. Er trug eine geistliche Kleidung. Im Augenblick­e, da er aus der Menge trat, erkannte ihn Peter Gringoire, der ihn bis jetzt nicht bemerkt hatte, und rief erstaunt: „Das ist ja mein Meister in Hermes, Don Claude Frollo, Archidiako­nus! Was Teufels will er von diesem garstigen Einäugigen? Hat er etwa Lust, sich von ihm mit den Zähnen zerreißen zu lassen?“

In der That erhob sich eben auch ein Schrei des Entsetzens. Der furchtbare Zwerg war schnell von dem Tragsessel herabgestü­rzt, und die Weiber wendeten bereits ihre Augen ab, denn sie glaubten nicht anders, als daß er den Archidiako­nus mit Haut und Haar auffressen würde. Quasimodo hatte mit einem mächtigen Satze den Angreifer erreicht, blickte ihm verwundert ins Gesicht und fiel dann auf die Kniee nieder. »15. Fortsetzun­g folgt

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