Ein Streit zur Unzeit
Schwimmen Kurz vor den Beckenwettbewerben der WM arbeiten sich Ex-Bundestrainer Henning Lambertz und sein Nachfolger aneinander ab. Es wird mit harten Bandagen gekämpft
Augsburg Henning Lambertz weilt seit Mittwoch in Frankreich im Urlaub. Zum ersten Mal seit vielen Jahren habe er Zeit, mit seiner Frau und den beiden Töchtern die Sommerferien gemeinsam zu verbringen. In den Jahren zuvor war er als Chef-Bundestrainer der deutschen Schwimmer mit der Nationalmannschaft unterwegs. Olympische Spiele, Welt- und Europameisterschaften. Ende 2018 trat Lambertz zurück und arbeitet jetzt als Realschullehrer in Wuppertal. Offizielle Begründung damals: Er wolle mehr Zeit für seine Familie haben. Zudem war kurz zuvor auch die damalige DSV-Präsidentin Gabi Dörries nach internen Streitereien zurückgetreten. In ihr verlor der nie unumstrittene Lambertz seinen wichtigsten Rückhalt.
Jetzt findet also die erste WM ohne Lambertz statt. Und urplötzlich ist der Ex-Cheftrainer wieder in aller Munde. Grund ist dessen Kritik an der neuen Führungsriege. Im Kern, so sieht es Lambertz, herrsche Konzeptlosigkeit. Jeder dürfe trainieren, was er wolle.
Lambertz hatte ein stark zentralisiertes Trainingsprogramm und Leistungszentren propagiert. Bei den Heimtrainern in den Vereinen war er damit auf wenig Gegenliebe gestoßen. Zudem hatte Lambertz harte Qualifikationsnormen für Großereignisse gesetzt. Die Folge: Viele deutsche Schwimmer konzentrierten sich auf die Qualifikationswettkämpf und waren dort schneller als dann beim eigentlichen Saisonhöhepunkt.
Lambertz, der 2013 angetreten war, das Debakel der Olympischen Spiele von London 2012 (erstmals blieben die deutschen Schwimmer ohne Medaille) auszubügeln, blieb die Trendwende verwehrt. Auch in Rio de Janeiro 2016 gab es kein Edelmetall. Die Position Lambertz’ stärkte das nicht.
Leistungssportdirektor Thomas Kurschilgen konterte dessen Kritik in der Süddeutschen Zeitung. Lambertz habe sich freiwillig zurückgezogen, ließ er sich dort zitieren. „Daraus kann man schlussfolgern, dass er, von Interviews abgesehen, selbst keine Antworten mehr liefern konnte oder wollte.“
Das Pingpong-Spiel ging gestern in die dritte Runde. Lambertz meldete sich gegenüber unserer Zeitung erneut zu Wort und sagte, dass Kurschilgen ausschlaggebend für seinen Rücktritt gewesen sei. „Das
weiß er. Familie und der Rücktritt von Gabi Dörries waren ebenso Punkte, die mich nachdenklich machten“, sagte Lambertz. „Aber er war es mit seinem Verhalten, der für meinen Rücktritt den Ausschlag gab. Ich hätte ihm eine Menge von Antworten auf Fragen geben können und wollen, aber dafür hätte er sich mit mir mal unterhalten müssen.“
Lambertz wirft Kurschilgen mangelnde Fachkenntnis vor. Viele Aussagen seien so weit an der Realität vorbei, dass es schwer zu ertragen sei. „Mir war über alle Jahre der Weltmaßstab wichtig und nie der europäische, daher das stetige Orientieren an der Welt“, sagte der ExBundestrainer zu dem Vorwurf, er habe mit den harten Normen Talente vergrault.
Das Scharmützel zwischen Lambertz und Kurschilgen kommt zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Am
Sonntag beginnen für die Beckenschwimmer die Wettbewerbe im südkoreanischen Gwangju. Unruhe im Vorfeld eines Großereignisses hat sich noch selten leistungsfördernd ausgewirkt. Zumal es im deutschen Team an Topleuten fehlt. Bis auf Florian Wellbrock sieht der Ex-Bundestrainer keine Medaillenkandidaten. Auch sein eigener Schützling Marco Koch, dessen Trainingspläne Lambertz schreibt, sei noch nicht soweit. „Er ist ein Finalkandidat, aber für eine Medaille ist es wohl noch zu früh“, sagt er über den 200-Meter-Brust-Weltmeister von 2015, der danach in ein Leistungstief fiel. Inzwischen geht die Tendenz wieder nach oben, aber die Planung sei auf die Olympischen Sommerspiele nächstes Jahr in Tokio ausgerichtet.
So ist Wellbrock die größte deutsche Hoffnung im Becken, wo er 800 und 1500 Meter Freistil
schwimmen wird. Im Freiwasser hat er schon den Titel über zehn Kilometer gewonnen. Unter Lambertz musste der 21-Jährige noch auf die Freiwasserwettbewerbe verzichten. „Meine Bauchschmerzen waren, ob er beides innerhalb eines Events hinbekommt.
Oder ob ihn die zehn Kilometer zu viele Körner kosten.“Die neue sportliche Leitung sieht darin kein Problem. Und Lambertz sagt: „Vielleicht straft er mich ja Lügen. Und sollte er es schaffen, im Freiwasser und im Becken den Titel zu gewinnen, wäre er der Erste.“
● Henning Lambertz, 48, beendete seine eigene Schwimmkarriere mit 21 und studierte Biologie und Sportwissenschaften. Von 1997 bis 2014 arbeitete er als Trainer in Wuppertal und Essen, von 2013 bis 2018 als Bundestrainer. (AZ)