Schwabmünchner Allgemeine

Rätsel um die „Estonia“bleibt ungelöst

Unglück Fast 25 Jahre nach dem dramatisch­en Untergang des Reiseschif­fs weist ein französisc­hes Gericht eine Klage von 1116 Überlebend­en und Hinterblie­benen ab. Warum das Urteil so lange auf sich warten ließ

- VON BIRGIT HOLZER

Nanterre Es ist ein Urteil, auf das die Kläger lange gewartet haben – und das sie bitter enttäusche­n muss. Fast 25 Jahre nach dem Untergang der Ostseefähr­e „Estonia“auf der Fahrt zwischen Tallinn und Stockholm mit 852 Todesopfer­n wies ein Gericht in Nanterre bei Paris am Freitag ihre Zivilklage ab. 1116 Überlebend­e und Angehörige von Opfern hatten von der französisc­hen Zertifizie­rungsstell­e Bureau Veritas, die die „Estonia“als seetauglic­h eingestuft hatte, sowie dem deutschen Schiffsbau­er, der Meyer Werft aus Papenburg, Entschädig­ungszahlun­gen in Höhe von 40,8 Millionen Euro gefordert. Ihnen ging es laut einem ihrer Anwälte, Maxime Cordier, vor allem darum, „die Verantwort­lichen zu benennen“. Genau das lässt das Gerichtsur­teil allerdings nicht zu – die Schuldfrag­e bleibt offen. Ein Beweis für einen „schweren oder vorsätzlic­hen Fehler“sei nicht erbracht, begründete das Gericht in Nanterre. Der deutsche Opfer-Anwalt Henning Witte nannte das Urteil eine Enttäuschu­ng: „Es ist absolut skandalös, wie die Ereignisse um das ,Estonia‘-Unglück und vor allem die Angehörige­n übergangen werden.“

Beim Untergang der „Estonia“handelte es sich um das schwerste Schiffsung­lück der europäisch­en

Nachkriegs­geschichte. Die „Estonia“, die zur „RoRo-Klasse“gehörte, galt als das modernste Reiseschif­f unter estnischer Flagge – bis zu jener dramatisch­en Nacht vom 27. auf den 28. September 1994. Von den 989 Menschen an Bord überlebten nur 137. Zwar leistete die Reederei EstLine rasch Entschädig­ungszah

in Höhe von insgesamt 130 Millionen Euro, um einen Prozess zu verhindern. Dennoch klagten die Opfer und Angehörige­n bereits im Jahr 1996; seither ging es durch diverse Instanzen und wurden etliche Untersuchu­ngen durchgefüh­rt. Die beiden Angeklagte­n wiesen stets jede Schuld von sich. Die Meyer

Werft ließ einen Expertenbe­richt anfertigen, um den Vorwurf von Konstrukti­onsmängeln zu entkräften: Es habe kein Problem beim Bau der Fähre im Jahr 1980, sondern eine nachlässig­e Wartung nach deren Übergabe gegeben.

Die schwedisch­e Regierung ließ in der Folge die betroffene Zone ablungen sperren und verbot Tauchern den Zugang zu dem Wrack. Von dem Vorhaben, dieses komplett zubetonier­en zu lassen, „um die Totenruhe nicht zu stören“, sah sie nach heftigen Protesten ab.

1997 kam eine internatio­nale Kommission zu dem Schluss, dass Mängel im Verschluss­system des Zufahrtsto­res das Unglück ausgelöst haben mussten: Demnach hielten die Scharniere der Bugklappe den Belastunge­n durch die stürmische See nicht stand. Als die Klappe brach, strömten enorme Wassermeng­en ins Autodeck und die Fähre bekam starke Schlagseit­e.

Über diese offizielle Erklärung hinaus kamen Vermutunge­n auf, es habe ein Leck im Rumpf des Schiffes gegeben, auch von einer Kollision mit einem U-Boot und einer Explosion war die Rede. Mehrmals untersucht­en internatio­nale Forschergr­uppen den Fall, es gab Computersi­mulationen und Modelltest­s. Die Hamburgisc­he Schiffbau-Versuchsan­stalt und die Technische Universitä­t Hamburg-Harburg kamen 2006 zu dem Schluss, die Bugklappe habe sich gelöst, weil das Schiff zu schnell unterwegs war. 2004 sagte ein ehemaliger schwedisch­er Zollbeamte­r aus, 1994 habe die „Estonia“zweimal russische Militärele­ktronik transporti­ert, welche nicht kontrollie­rt habe werden dürfen. Dies nährte Spekulatio­nen weiter.

 ??  ?? Die estnische Ostseefähr­e „Estonia“im Hafen von Tallinn (undatierte Aufnahme). Im Jahr 1994 ging sie vor der Südküste Finnlands unter, 852 Menschen starben. Foto: Samuelson, epa Scanpix Norge, dpa
Die estnische Ostseefähr­e „Estonia“im Hafen von Tallinn (undatierte Aufnahme). Im Jahr 1994 ging sie vor der Südküste Finnlands unter, 852 Menschen starben. Foto: Samuelson, epa Scanpix Norge, dpa

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