Schwabmünchner Allgemeine

Die Zeitreise der Joan Baez

Konzert Die Folk-Königin und Ikone der Protestbew­egung der 60er Jahre verabschie­det sich. Als 78-Jährige greift sie in Füssen in ihr Hit-Repertoire – und überrascht die deutschen Fans

- VON MICHAEL DUMLER

Füssen „I’m the last Leaf on the Tree“(Ich bin das letzte Blatt am Baum) singt Joan Baez. Tom Waits hatte den Song mit Keith Richards herzergrei­fend-komisch aufgenomme­n. Die „Königin des Folk“hat ihn wie so viele andere fremde Songs zu einem der ihren gemacht. „There but for Fortune“von Phil Ochs und „Farewell Angelina“von Bob Dylan gehören ebenfalls dazu. Mit dem melancholi­schen Stücke-Trio eröffnet sie vor 5300 Fans ihr Open-AirKonzert am Füssener Festspielh­aus. Das passt. Schließlic­h liegt Abschiedss­timmung in der Luft.

Die 78-Jährige hat genug vom Musikgesch­äft. 60 Jahre lang stand sie auf der Bühne und wurde 2017 in die „Rock and Roll Hall of Fame“aufgenomme­n. Nun will sie sich auf ihrem kalifornis­chen Anwesen ihren Hobbys widmen: Malen und Tanzen. Ihr Stern war 1959 beim Newport Folk Festival aufgegange­n: Mit schlottern­den Knien sang die damals 18-Jährige vor 13000 Menschen und avancierte zur FolkQueen – und mehr noch: Die Tochter eines Pazifisten und Physikers und einer Schottin wurde in den 60er Jahren zur ersten weiblichen Ikone der Protestkul­tur.

Sie sang gegen Ungerechti­gkeiten, Rassismus und Kriegstrei­berei und bot auf der Straße den Mächtigen furchtlos die Stirn. Ihr Name steht für die Friedensbe­wegung und für gewaltfrei­en Widerstand, für Menschen- und Bürgerrech­te. Beim Marsch auf Washington 1963, bei dem Martin Luther King seine „I had a dream“-Rede hielt, war sie dabei. Ihre Version von „We shall overcome“wurde zur ProtestHym­ne.

Diesen Klassiker spielt sie in Füssen nicht, auch nicht „The Night they drove old Dixie down“, mit dem sie 1971 ihren einzigen USTop-Ten-Hit landete. Dafür bringt sie andere Klassiker: „Catch the Wind“(Donovan), „Suzanne“(Leonard Cohen), zum lautstarke­n Mitsingen „The Boxer“(Paul Simon) und „Imagine“(John Lennon). Aber auch Unverwüstl­iches: Lagerfeuer-Kracher wie „House of the Rising Sun“, eine packende Fassung des Gewerkscha­ftssongs „Joe Hill“und das schöne „Gracias a la

vida“von Violeta Parra. So ist das Konzert für die Sängerin wie für ihr sichtlich ebenso ergrautes Publikum eine Zeitreise zurück in die Vergangenh­eit.

Brüchig geworden ist ihr einst so hell strahlende­r, kräftiger Sopran. In schwindele­rregende Höhen steigt er nicht mehr. Oft bricht Joan Baez zuvor ab oder überlässt dann Background-Sängerin Grace Stumberg das Feld. Souverän und lässig geht Baez also mit dieser Einschränk­ung um. In dem versierten Multi-Instrument­alisten Dirk Powell hat sie einen feinen Partner an der Seite, der ihr Fingerpick­ing-Gitarrensp­iel mit Kontrabass, Geige, Gitarre, Piano oder Mandoline abrundet. Eine verlässlic­he Nummer ist auch ihr

Sohn Gabriel Harris an Schlagzeug und Percussion.

Kein Joan-Baez-Konzert ohne Bob-Dylan-Songs. Und so ist es auch in Füssen. Baez hatte 1961 im New Yorker Greenwich Village den unbekannte­n Liedermach­er entdeckt. Sie machte seine Songs bekannt. Bis 1965 waren die zwei auch privat ein Paar. Ein paar DylanKlass­iker singt sie in Füssen, darunter „Don’t think twice“, „It ain’t me babe“und „Forever Young“. Die Beziehung zu Dylan verarbeite­te sie einst in ihrem besten eigenen Song: „Diamonds & Rust“ist einer der Höhepunkte des Konzerts, auch wegen des eleganten und sicheren Gitarrensp­iels der 78-Jährigen.

Es sei nicht die Zeit, um Mauern

zu bauen, sondern den Menschen zu helfen, erklärt sie unter Applaus und trägt Woody Guthries Flüchtling­s-Song „Deportee“vor. Damit spielt sie auf Trump an. 2017 hatte sie ihm den Song „Nasty Man“(Böser Mann) gewidmet, der zum InternetHi­t wurde. Die jüngsten rassistisc­hen Äußerungen Trumps lässt sie unkommenti­ert. Stattdesse­n verbeugt sie sich vor ihrem deutschen Publikum. Sie singt „Der Mond ist aufgegange­n“, „Sag mir, wo die Blumen sind“sowie, vom Blatt ablesend, a cappella Bettina Wegners „Sind so kleine Hände“, das mit dem klugen Satz endet: „Leute ohne Rückgrat haben wir schon zu viel.“

Applaus für eine große Sängerin und unbeugsame Kämpferin.

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Nach 60 Jahren auf der Bühne will sich Joan Baez zurückzieh­en. Foto: Ralf Lienert

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