„Jetzt kommt der Fuß. Jetzt kommt der Fuß…“
Die Mondlandung war das erste globale Medienereignis. Auch das Fernsehen betrat Neuland. Für ein Unglück im All gab es Notfallpläne
„Hier ist der Fuß von Armstrong. Armstrong steht schon in dem Teller. Neil, wir sehen dich, wie du die Leiter runterkommst, sagt Houston. Jetzt kommt der Fuß. Jetzt kommt der Fuß. Er hat den Fuß noch einmal gehoben. Nochmal zurück zur ersten Sprosse, sagte Houston. Jetzt scheint Armstrong in dem Landefuß zu stehen. Jetzt kommt der Fuß. Nein. Das war eben Armstrongs Arm. Der Fuß, der herunterkam, das war der linke Fuß, also der Fuß, mit dem er zuerst auf den Mond treten sollte…“
21. Juli 1969, 3.54 Uhr. Im WDR-Sonderstudio in Köln sind Günter Siefarth und seine Kollegen seit Stunden am Reden. Und können jetzt einfach nicht aufhören. Noch ein Satz. Noch ein Satz. Siefarth sitzt rechts hinter seiner halbrunden Kommandostation und sieht noch immer tipptopp aus. Hellgrauer Anzug, dunkelrote Krawatte, weißes Einstecktuch. Links von ihm dann Hans Heine, Anatol Johansen und Lothar Loewe. Johansen lümmelt als Einziger ein bisschen im Stuhl, scheint Typsache zu sein. Wen man nicht sieht: Werner Büdeler, der für die ARD im Nasa-Kontrollzentrum sitzt. Wenn er spricht, blenden sie in Köln ein Bild ein. Büdeler im blauen Sakko, auf einem Bild hat er den riesigen Telefonhörer mit der dicken Kordel in der rechten Hand, auf dem anderen in der linken. Auf dem einen sieht er verwegener aus – „Hallo Werner Büdeler, können Sie mich hören?“Auch von ihm aus Houston also: Sätze, Sätze, Sätze. Weshalb sie den einen wichtigen Moment dann tatsächlich verquatschen werden. „Ein kleiner Schritt noch“heißt es in Köln, während um 3.56 Uhr mitteleuropäischer Zeit Neil Armstrong auf dem Mond nach Bemerkungen über den Sand endlich die passenden Worte zum Ereignis spricht: „Ein kleiner Schritt nur für einen Menschen…“Er nuschelt ein bisschen dabei, vielleicht auch die Aufregung, aber egal, es sind ja alle irre aufgeregt! Es ist der Wahnsinn.
„Landung auf dem Mond, so heißt die Sendung, die wir in den nächsten viereinhalb Stunden aus unserem ApolloSonderstudio übertragen. Das Deutsche Fernsehen wird versuchen, alle entscheidenden Phasen dieses Unternehmens zu vermitteln.“
Als Günter Siefarth im WDRStudio die Zuschauer so begrüßt, sind sie schon seit Stunden auf Sendung, aber die spannendsten Stunden der Apollo-11-Mission stehen jetzt bevor. Also die, über die Buzz Aldrin, der zweite Mann auf dem Mond, später sagen wird: „Noch nie zuvor hatten so viele Menschen zwei anderen bei etwas zugeschaut.“In 49 Ländern wird die Mondlandung live übertragen: das erste globale Medienereignis. Die Menschheit, die sonst ja alles Mögliche macht, schläft, isst, arbeitet, ein großer Teil von ihr schaut in diesen Stunden einträchtig auf Bildschirme. Blickt aufs an sich doch Unmögliche – wenn es denn möglich ist! Nicht in China. Auch in Russland werden erst tags darauf Bilder gezeigt, im DDR-Fernsehen läuft nachts das Testbild. In Israel und Südafrika muss man warten, bis die Bänder mit der Landung eingeflogen sind.
Insgesamt aber sitzen mehr als eine halbe Milliarde Menschen vor den Fernsehern, umgerechnet jeder sechste, um mitzuerleben, wie in über 380000 Kilometer Entfernung zwei Männer über den Mond spazieren, manchmal auch hüpfen, die amerikanische Fahne aufstellen, am Mond herumkratzen, Gestein in ihren Taschen verstauen. Die ARD
hat für die Landung sagenhafte 28 Stunden live eingeplant, fast am Stück, auch das ZDF.
Wer kann, sieht also zu, zu Hause, bei den Nachbarn, vorm örtlichen Fernsehgeschäft. Und der Papst in Castel Gandolfo. Man holt die Kinder aus den Betten! Das junge Medium macht in diesen Stunden zum ersten Mal richtig Masse und von da ab immer mehr. Vier Jahre später wird Elvis Presley die Zuschauerzahl der Mondlandung mit einer Milliarde Zuschauer bei seinem Konzert „Aloha from Hawaii“toppen. Im Juli 1985 sehen bis zu 1,9 Milliarden die Live-Aid-Konzerte der Superstars in London und Philadelphia, 40 Prozent der damaligen Weltbevölkerung. Als Muhammad Ali 1996 in Atlanta die olympische Flamme entzündet, sind es 3,6 Milliarden. Krönungen, Hochzeiten, Trauerfeiern, Sportevents, weil es möglich ist, will die Welt nun auch bei allem zusehen. Oder sie muss, weil es gar nicht anders geht, die Fernsehbilder einen zwingen wie dann am 11. September 2001.
„Fernsehen heißt Dabeisein. Das klingt neuerdings härter. Wir sind jetzt und künftig immer und überall dabei. Aber Dabeisein ist nicht alles. Wir müssen auch gewinnen. An Einsicht und Weitblick. Sonst rennen uns die Ereignisse davon, und die Geschichte wächst uns über den Kopf“, wird ein Zuschauer nach der Mondlandung an die Zeitschrift Hörzu schreiben. In dieser Nacht zumindest aber verläuft die Menschheitsgeschichte fast wie geplant – man hinkt nur ein wenig dem Zeitplan hinterher.
„Herr Büdeler, ist man im Mission Control Center nervös geworden?“– Nein, ich würde sagen ganz und gar nicht. Man sitzt dort völlig ruhig und gelassen. Die einzelnen Leute blättern in Akten und Aufzeichnungen rum und unterhalten sich miteinander. Was wir hier voller Spannung erwarten, sind die ersten Fernsehbilder vom Mond.“
250000 Mark hat die ARD für dieses Bilder ausgegeben, Grobkörniges in Schwarz-Weiß. Bis dahin aber muss die Zeit in Farbe gefüllt werden. Außer Siefarth, dem die Nacht den Ehrentitel „Mister Apollo“einbringt, und Kollegen haben sie in Köln auch noch eine Professorenriege versammelt, die Fragen der Zuschauer beantworten soll. Außerdem: der Weltraumpublizist Rudolf Brock und der Sportstudent Arno von der Weppen, der vielleicht den undankbarsten Job der Nacht hat. Er muss so tun, als sei er Armstrong: Im dicken Fake-Anzug sich zeitgleich aus dem Nachbau der Kabine Mondlandefähre „Eagle“quetschen, den die WDR-Techniker für 9000 Mark zusammengeschraubt haben samt sämtlicher Knöpfchen. Davor aber soll von der Weppen auch schon auch mal eine Kniebeuge vollführen, um zu demonstrieren, dass die ersten Schritte auf dem Mond eben doch kein Spaziergang sind. Günter Siefarth sagt:
„So also etwa sieht das aus.“
Man kann die Aufzeichnungen von damals heute auf Youtube sehen, in der Nacht auf Sonntag auch wieder im Fernsehen. Mit all den Männern, die einem im vollgestellten Studio mit ernster Miene die Mondmission erklären. Frauen?
auch da, aber nur, um die Anrufe der Zuschauer entgegenzunehmen. Es klingelt andauernd, auch bei einem Arzt in Hagen mit ähnlicher Nummer, weshalb Siefarth die Zuschauer dringend bittet, an die Kölner Vorwahl zu denken.
Ausgewählte Fragen liest dann der Wissenschaftsjournalist Ernst von Khuon den Experten vor. Geraten die Antworten zu kompliziert, gibt Khuon, jovial, lässig, weiches bayerisches Timbre, den Übersetzer. Was also will man in dieser Nacht wissen? Alles! Wo man nach der Mission Mondsteine kaufen könne? Wie man im luftleeren Raum Kurskorrekturen vollführen könne? Ob die Raumfahrer Waffen bei sich hätten für den Fall eines Kampfes mit interplanetarischen Wesen? Ob es denn wirklich stimme, dass, wenn die Astronauten auf dem Mond stolpern und umfallen, sie sich nicht mehr erheben können? Eine Frage, die Khuon im ansonsten ironiefreien Studio in sich hinein lächeln lässt: „Das stimmt sicher nicht. Sie werden aber erst gar nicht versuchen hinzufallen.“Und weiter: Wie hoch die Luftfeuchtigkeit in der Mondfähre sei? Was man sich unter einem Sonnenwind vorstellen müsse? Ein Zuschauer möchte auf einen Versprecher hinweisen: Man habe Erd- und Mondschatten verwechselt. Und dann natürlich das Hopsen und das Hüpfen, was auch Khuon ungemein fasziniert:
„Ein Sechstel Erdanziehung auf dem Mond, die Frage an den Raummediziner, an sich müsste man annehmen, dass das eine herrliche Sache ist. Man könnte sich ja das naive Bild machen, dass sich der Mensch plötzlich wie ein Stabhochspringer oder wie ein Känguru mit riesigen Sätzen fortbewegen kann.“
Man kann sich leicht lustig machen über die Fragen von damals. Wie man sich im Nachhinein immer leicht lustig machen kann. Man kann aber auch einfach ziemlich beeindruckt sein. Was sie in Köln alles in dieses Studio geschleppt haben, Mond, Fähre, einen unfassbar riesigen Bildschirm, drei Quadratmeter groß. Wobei: Beim ZDF haben sie vor dem Studio sogar eine echte V2-Rakete stehen, besitzen eine acht auf drei Meter große Mondkarte und haben die Landefähre in Originalgröße in Auftrag gegeben! Die bei der ARD ist auf ein Drittel verkleinert, nur die Kabine originalgetreu. Dafür gibt es zur Ausstattung des Kölner Sonderstudios einen sehr positiven Leserbrief in der Hörzu: „Das der ARD war mit seinen schimmernden Tischverkleidungen architektonisch etwas raumfahrtnäSind her.“Hier wie dort aber wird vor allem mit großer Ernsthaftigkeit alles erklärt, jedes Detail, scheinbar Selbstverständliches und Nebensächliches:
„Vielleicht sollten wir noch einen Ton sagen zu diesem unter der Obhut der Nasa entwickelten Kugelschreiber. Er ist ein Wunder. Er schreibt überall, egal wo Sie sich befinden, (…) selbst wenn Ihnen gar nicht zum Schreiben zumute ist.“
Ein Wunder also, der Kugelschreiber, das ganze Unternehmen. Aber eines, das sich erklären lässt, in technische Details zerlegen lässt. Hans Heine koppelt auf seinem Schaubild die Mondfähre Eagle ganz locker vom Columbia-Raumschiff ab. Gefahr? Eine Zuschauerin zumindest fragt, ob die Astronauten Gifttabletten dabei hätten. Ein anderer Anrufer möchte wissen, ob Michael Collins, der zu dieser Zeit schon alleine seine Runden um den Mond dreht, während die Kollegen unten in der Fähre sich auf den Ausstieg vorbereiten, denn auch alleine zurückkehren könne. Im Fall der Fälle.
Was das Fernsehen dann gemacht hätte? Im Nürnberger Museum für Kommunikation liegen in der Sonderausstellung „Raumschiff Wohnzimmer. Die Mondlandung als Medienereignis“die Notfallpläne der Sender aus. Die Sendeleitung des Bayerischen Rundfunks wendet sich an die ARD–Programmdirektoren mit dem Vorschlag: „Wir würden unangebracht heitere und stark rhythmisierte Musik vorübergehend und stillschweigend vermeiden.“Wie die Zuschauer reagieren würden? Es gibt keine Erfahrungswerte, aber beim BR nimmt man an, „sehr lebhaft und auch mit dem Wort tragisch“.
Neuland. In jeder Hinsicht. Oben und unten. Erst im Nachhinein sei ihm bewusst geworden, wie gefährlich die Sache für die Astronauten war, sagte Siefarth später, nämlich als er beim Lesen der Berichte erkannte, „dass sie mit dem letzten Tropfen Sprit auf dem Mond angekommen sind“. Aber in dieser Nacht ist die Menschheit berauscht von der neuen Allmacht, auch was das Fernsehen betrifft, findet oben und unten eine Art Leistungsschau statt. Mond, Houston, Köln. Die Bilder seien mit all den Umwegen auf der Erde von den Empfangsstationen bis ins Studio grob gerechnet 400000 Kilometer unterwegs, erklärt man beim WDR: Dennoch nur eine Sekunde Verzögerung. Als dann tatsächlich die ersten grisseligen Bilder vom Trabanten übertragen werden, sorgen sie in Köln erst einmal für ein wenig Irritation:
„Hier wurde eben die Vermutung geäußert, dass das Bild auf dem Kopf stünde.“
Was man erwarten hätte können: Dass sie auch im Studio irgendwann Kopf stehen. Der erste Mensch auf dem Mars, – damals glaubte man durchaus daran, das noch mitzuerleben –, was wäre das heute für eine Inszenierung. Aber 1969 um kurz vor vier Uhr mitteleuropäischer Zeit gibt es keinen Aufschrei, kein Geklatsche, keine Musik. Das Erste Deutsche Fernsehen gibt sich durch und durch seriös. Oder wie es der Leser H. H. Brachvogel in der Hörzu formuliert: „Die Berichterstattung hatte die treffliche Mischung von Kühle in der Aussage und Wärme im Ton.“Als Buzz Aldrin noch in der Kabine äußert, er hätte sich besser noch mal rasieren sollen, fühlt man in Köln mit:
„Offensichtlich kratzen ihn seine Bartstoppeln etwas, und damit hat er einen Zustand erreicht, der ungefähr schon dem unsrigen ähnelt. Denn auch wir sind ja inzwischen schon mehr als zwölf Stunden hier im Studio.“
Es ist alles ein Wahnsinn. Der Mensch auf dem Mond, und die Menschheit ist live dabei. Großes Kino da oben und da unten. In Houston werden sie Michael Collins ein bisschen ärgern, der da allein um den Mond kreist, und sagen: „Ich glaube, du bist so ziemlich der einzige Mensch, der das alles nicht im Fernsehen sieht.“Schon in Ordnung, es mache ihm nichts aus, antwortet Collins, aber wie denn die Fernsehbilder so seien. Aus Houston kommt: „Es ist wunderschön, Mike. Wirklich.“