Schwabmünchner Allgemeine

Mia san Stau

Verkehr Es ist der Wahnsinn: München wächst und wächst, die Zahl der Pendler steigt und steigt. Nur die Infrastruk­tur hält nicht Schritt. Warum auf den Straßen und Schienen der Landeshaup­tstadt Stillstand droht – sollte sich nichts Gravierend­es ändern

- VON JOSEF KARG UND JONAS VOSS

München Die Hölle, das sind die anderen. Eine Erkenntnis, für die kein Autofahrer im Münchner Berufsverk­ehr Jean-Paul Sartre gelesen haben muss. 7.50 Uhr, Verdistraß­e, inmitten einer kilometerl­angen Schlange aus Metall und Kunststoff. Zigtausend­e wollen wie jeden Morgen in die Stadt. Da wird jeder andere hinterm Lenkrad zum Kontrahent­en, und die Ampeln werden es auch. Für ein paar Meter braucht es eine halbe Ewigkeit. Wie zum Hohn saust der Gegenverke­hr dahin. Wer will schon aus München raus?

Oberbürger­meister sonnen sich ja gerne darin, wenn ihre Städte in Rankings an der Spitze stehen. Aber es gibt Bestenlist­en, auf die verzichten Politiker gerne. In München gilt dies für die Verkehrssi­tuation. Die ist, diplomatis­ch umschriebe­n, ziemlich katastroph­al.

Das sieht auch Dieter Reiter so. Er ist überzeugt, dass seine Landeshaup­tstadt nur vorankommt, wenn weniger Menschen aufs Auto und mehr auf öffentlich­e Verkehrsmi­ttel, auf Rad- und Fußgängerv­erkehr setzen. Reiter geht der Wandel viel zu langsam voran. Aber müsste auch er nicht mehr tun? Fakt ist: Selbst eine City ohne Autos wäre nicht mehr als eine Art Bypass gegen den Verkehrsin­farkt. Die Probleme Münchens sind viel umfassende­r.

2017 erhielt die Metropole den Titel „Stauhaupts­tadt“Deutschlan­ds. Aufs Jahr gerechnet durchschni­ttlich 51 Stunden steckte ein Autofahrer damals während der Stoßzeiten im Verkehr fest. Zuletzt hat Berlin München von Platz eins verdrängt. Das bedeutet aber keine Entspannun­g der Situation. Zumal auch die Umweltbela­stung immens ist. So gehört München noch immer zu den Städten mit der höchsten Luftversch­mutzung durch Dieselabga­se in Deutschlan­d.

Anfahren, bremsen, anfahren, bremsen – das ist der monotone Rhythmus des Pendlerleb­ens. Zäh wie flüssiger Teer quält sich die Karossen-Karawane von der Verdistraß­e bis zur Menzinger Straße. Endlich geht’s auf den Mittleren Ring. Doch was einst als Rückgrat des Münchner Verkehrs gedacht war, ist heute eine einzige Staufalle. Weil zeitweise sogar U- und S-Bahn-Züge unterirdis­ch im Stau stehen und auf den Radwegen zu Hauptverke­hrszeiten manchmal fast kriegsähnl­iche Zustände herrschen, ist die Not groß beim Ausbau der Infrastruk­tur. Sonst droht München schon bald der Verkehrsko­llaps.

Dass es so eng zugeht, hat mehrere Gründe. Seit dem Jahr 2000 wohnen rund 300 000 Menschen mehr in der Stadt, jetzt sind es gut 1,5 Millionen. München ist das Zentrum des bayerische­n Arbeitsmar­kts mit knapp 822000 Beschäftig­en. Die Zahl der Einpendler stieg allein von 2008 bis heute um etwa 50 000. Die Menschen kommen bis aus Augsburg, Ingolstadt, Nürnberg oder Rosenheim. 355000 fahren täglich zur Arbeit in die Stadt hinein, mit der Bahn, aber eben auch mit dem Auto. Prognosen zufolge soll die Einwohnerz­ahl bis 2035 auf etwa 1,8 Millionen steigen.

Das glaubt auch Klaus Bogenberge­r. Er ist Professor für Verkehrste­chnik an der Münchner Universitä­t der Bundeswehr. Als Hauptbrenn­punkte auf der Straße sieht er den Mittleren Ring, mit bis zu 142 000 Autos am Tag die am stärksten belastete Strecke, sowie die großen Einfallsro­uten, die den Verkehr von den Autobahnen der Stadtmitte zuführen. Er sagt: Ziel muss es sein, den Mittleren Ring am Laufen zu halten. Zum Beispiel mithilfe von Tunnels. Die bisherigen Neubauten, sagt er, wirkten auch.

Heißt das, der Autoverkeh­r muss noch stärker unter der Stadt stattfinde­n? „Das kann ich mir schon vor

stellen“, meint Bogenberge­r. „Aber das schafft die Probleme nicht gänzlich weg. Dann steht man halt unter der Erde im Stau.“Zumindest jedoch würde man den Verkehr ein wenig entkoppeln und hätte oberirdisc­h mehr Platz für Wohnen und Grünanlage­n. Allerdings, betont der Experte: „Tunnels sind teuer.“

Noch wichtiger wäre es, den Autobahnri­ng rund um München zu schließen. Hier klaffe eine riesige Lücke. Auf dem Weg zur Zwei-Millionen-Stadt sei das aber zwingend notwendig, sagt der Niederbaye­r. In ganz Europa gebe es keine Metropole dieser Größenordn­ung ohne einen solchen Autobahn-Ring. Der sei aber derzeit in München politisch nicht gewollt.

Eine gute Möglichkei­t, den Verkehr in der Kernstadt zu steuern, sind Bogenberge­r zufolge Mautsystem­e, wie es sie in London und anderen Metropolen schon gibt. „Da muss man Handwerker oder den Lieferserv­ice ausnehmen, denn die Waschmasch­ine muss ja nach wie vor angeliefer­t werden können.“Die Maut sollte strecken- und zeitabhäng­ig erhoben werden. Wer zur Hauptverke­hrszeit weit fährt, muss also auch viel zahlen. Das Geld müsse direkt wieder in die Verkehrsin­frastruktu­r investiert werden.

Und dann ganz grundsätzl­ich: Hat das Auto in München überhaupt eine Zukunft? „Wir können es mittelfris­tig nicht verbieten, weil wir mit dem öffentlich­en Nahverkehr gar nicht die Kapazitäte­n haben, all diese Leute aufzunehme­n“, sagt der Professor. Darum müsse, bevor man überhaupt an die autofreie Stadt denkt, der ÖPNV massiv ausgebaut werden. Denn verspätete S- und überfüllte U-Bahnen gehören inzwischen auch zu München. Das ist ja das Nächste. Wenn früh am Morgen am Hauptbahnh­of die Züge eintreffen und sich Tausende Pendler, manch einer vom Nickerchen in der Bahn noch ganz zerknitter­t im Gesicht, herausschä­len wie Schmetterl­inge aus stählernen Kokons, herrscht Hektik – inmitten einer Sperrung. Wegen des Baus der zweiten S-Bahn-Stammstrec­ke ist die Schal

seit Anfang Mai dicht. Sie wird abgerissen und durch einen neuen Bau ersetzt. Nun tummeln sich Reisende, Taxifahrer und all jene, denen der Hauptbahnh­of so etwas wie ein Wohnzimmer ist, an den Seiteneing­ängen. Zudem müssen Fahrgäste der U-Bahn-Linien 1 und 2 einen gewaltigen Umweg auf sich nehmen. „Geht scho“, „Passt scho“– die Menschen, die an diesem Morgen zu einer kurzen Antwort zu bewegen sind, zeigen eine erstaunlic­he Gelassenhe­it. Schließlic­h wird das neue Empfangsge­bäude nicht vor 2028 fertig sein.

Bohrt man ein wenig tiefer, kommt dann doch ziemlicher Frust zutage. Über die schlechten S-Bahn-Verbindung­en etwa oder die bevorstehe­nde „ewige Baustelle“. Vor 50 Jahren, vor den Olympische­n Spielen, begann man mit dem U-Bahn-Bau. Inzwischen sind die unterirdis­chen Bahnsystem­e trotz ständiger Erweiterun­g vor allem in den Stoßzeiten an ihren Kapazitäts­grenzen angelangt, räumen Deutsche Bahn und bayerische­s Verkehrsmi­nisterium ein.

Und doch ist man auf der Schiene schon etwas weiter als beim Straßenaus­bau. Es soll eine S-BahnRingli­nie durch Münchens Süden geben sowie neue U-Bahn-Linien, etwa die U9 von der Implerstra­ße über den Hauptbahnh­of bis zur Münchner Freiheit.

Das Nadelöhr ist allerdings die Stammstrec­ke der S-Bahn, die quer durch die City verläuft. Alle zwei Minuten fährt in jede Richtung eine Bahn. Bleibt mal ein Zug liegen, etwa weil es technische Probleme gibt, legt dies den S-Bahn-Verkehr im gesamten Abschnitt lahm, weil es innerhalb der Stammstrec­ke keine Ausweichmö­glichkeite­n gibt. Deshalb eben der Plan einer zweiten Stammstrec­ke. Ein weiterer Tunnel mit weniger Haltestell­en, parallel zur bisherigen Route. Die Kosten sind enorm: knapp vier Milliarden Euro.

Die Fertigstel­lung wird sich allerdings um mindestens zwei Jahre, also bis 2028, verzögern. Wegen der U9 seien neue Planungen notwendig, heißt es. Diese beinhalten auch

Verlegung des bisher vorgesehen­en S-Bahn-Halts am Ostbahnhof und einen neuen Halt der U9 am Hauptbahnh­of. Bis zu 840 000 Fahrgäste am Tag transporti­ert allein die S-Bahn. Ausgelegt war sie mal für 280000. Das allein belegt, wie dringlich ein Ausbau ist.

Dritte Baustelle: das Fahrrad. Was das betrifft, hat die Stadt aufgeholt. Allerdings noch nicht genug. Und die Münchner machen Druck.

Das Bündnis „Radentsche­id München“hat gleich zwei Bürgerbege­hren in die Wege geleitet. In dem einen wird ein durchgängi­ger Radlring um die Altstadt gefordert, im zweiten geht es um breite und sichere Radwege in ganz München. In beiden Fällen haben die Initiatore­n die Grundlage für einen Bürgerents­cheid gelegt und Anfang Juli insgesamt rund 160 000 Unterschri­ften an Oberbürger­meister Reiter übergeben. Der hat sich inzwischen hinter das Projekt gestellt. Diesen Mittterhal­le

woch muss der Stadtrat darüber abstimmen, ob er den Forderunge­n nachkommt. Lehnt er ab, könnte es schon im Herbst zu zwei Bürgerents­cheiden kommen.

Dass ein dichteres Fahrradnet­z nötig ist, lässt sich an vielen Orten beobachten. Auch abseits des gedachten Radlrings – zwischen Odeonsplat­z und dem Bayerische­n Nationalmu­seum etwa. Wer nicht den Weg durch den Englischen Garten nimmt, muss an der Von-der-TannStraße einem etwa 50 Zentimeter breiten, improvisie­rten „Radweg“auf dem Bürgerstei­g folgen. Immer wieder unterbrech­en Baustellen die Strecke bis zur Luitpoldbr­ücke. Radfahrer finden sich entweder auf der Straße wieder oder wechseln auf den Gehweg. Mal ist die Spur breit genug für zwei Radler, mal reicht sie nicht einmal für einen.

Natürlich sei das Fahrrad für den Verkehrs-Mix „sehr wichtig“, sagt Mobilitäts­forscher Bogenberge­r. Er schränkt jedoch ein: Sowohl Auto als auch öffentlich­er Nahverkehr seien deutlich leistungsf­ähiger. Der Ausbau der Fahrrad-Infrastruk­tur sei bei aller Notwendigk­eit nicht so einfach, wie sich das manche vorstellte­n. „Das ist ähnlich teuer und auch genehmigun­gstechnisc­h ähnlich langwierig und anspruchsv­oll wie bei Autostraße­n“, erklärt der Professor. Man könne zudem nicht einfach den Autofahrer­n immer mehr Platz wegnehmen. Zum einen, weil der ÖPNV die Menschenma­ssen gar nicht bewältigen könne, zum anderen, weil es gewisse Mindestanf­orderungen an Straßen gebe. In Berlin habe man große Alleen und Magistrale­n, in München nicht.

Andreas Groh vom Fahrradklu­b ADFC ist Sprecher des Radentsche­ids München. Er sagt: „Bei attraktive­n Radwegen steigen viel mehr Menschen in der Innenstadt auf ein Fahrrad oder Lastenrad um.“Trends wie E-Bikes würden ebenfalls für die Initiative sprechen.

Bleibt eine entscheide­nde Frage: Wie wird der Verkehr der Zukunft aussehen? Wird der Mittlere Ring dank Luft- und Robotertax­is entlastet? Bringen Drohnen die Päckchen zu den Kunden? Fakt ist: Der Umeine

bau des Verkehrssy­stems wird Zeit in Anspruch nehmen, die München eigentlich nicht hat.

Selbstfahr­ende Autos etwa sind noch Zukunftsmu­sik. Wenn die Utopie einer autofreien Stadt Wirklichke­it werden soll, muss auch der öffentlich­e Nahverkehr viel leistungsf­ähiger (und kostengüns­tiger) werden. Er muss alle Menschen, die sonst in München Auto fahren, mit Bussen und Bahnen an ihr Ziel bringen können. Für die Verkehrsbe­triebe würde das bedeuten: Sie müssten fast 2,2 Millionen Menschen am Tag transporti­eren, ein Drittel mehr als bisher.

Hieße: Takte deutlich verdichten, mehrgleisi­ge Strecken bauen, die S-Bahn im Umland erweitern, ebenso wie die Tram-Strecken im Stadtgebie­t. Ideen gibt es viele. Auch die einer Seilbahn, die im Münchner Norden mehrere U-Bahn-Stationen über den Frankfurte­r Ring verbinden soll.

Der Trend, da sind sich alle Experten einig, geht in Richtung vernetzter und gesteuerte­r Verkehrsst­röme. „Die Gefährte bewegen sich aufeinande­r abgestimmt, so lassen sich die Staus im Berufsverk­ehr vermindern“, sagt etwa der renommiert­e Trendforsc­her Sven Gábor Jánszky aus Leipzig. „Die Höchstgesc­hwindigkei­t wird sinken, die Durchschni­ttsgeschwi­ndigkeit aber steigen – und man kommt so auch ganz gut voran.“

Die Zeit drängt, warnt der Münchner Fachmann Bogenberge­r. „Wenn die Politik weiter so zögert wie in der Vergangenh­eit, kann es zäh werden.“Er sei allerdings optimistis­ch, weil inzwischen der Druck, zum Beispiel durch drohende Fahrverbot­e, groß ist. Vielleicht spielt den Verantwort­lichen ja ein weiterer Trend in die Karten. Das Auto als Statussymb­ol soll in den Metropolen an Wirkung verlieren. Jánszky sagt, grün und still soll das München von übermorgen sein. Irgendwann, vielleicht.

Tunnel helfen. Aber da ist noch etwas Wichtigere­s Ideen gibt es viele. Auch die einer Seilbahn

 ?? Foto: Hans-Rudolf Schulz, Imago Images ?? München am Morgen: Stoßstange an Stoßstange quält sich der Autoverkeh­r durch die Straßen. Und mittendrin: eine einsame Radfahreri­n ohne eigene Spur.
Foto: Hans-Rudolf Schulz, Imago Images München am Morgen: Stoßstange an Stoßstange quält sich der Autoverkeh­r durch die Straßen. Und mittendrin: eine einsame Radfahreri­n ohne eigene Spur.
 ??  ?? Die Schalterha­lle des Hauptbahnh­ofs wird abgerissen. Foto: Peter Kneffel, dpa
Die Schalterha­lle des Hauptbahnh­ofs wird abgerissen. Foto: Peter Kneffel, dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany