Schwabmünchner Allgemeine

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (18)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Das schwache und schwankend­e Licht, das die Feuer von sich warfen, zeigte dem verblüffte­n Dichter, rings um den unermeßlic­hen Platz, ein häßliches Gemisch alter, halb verfallene­r Häuser. Das Ganze erschien ihm wie eine neue Welt, unbekannt, unerhört, mißgestalt­et, phantastis­ch, kriechend und wimmelnd. Der unglücksel­ige Poet, den die drei Gauner fest hielten, den hundert andere bizarre Gesichter, gleich Masken, anstarrten, um den hundert Stimmen heulten und bellten, suchte vergebens seinen Geist zu sammeln. Der Faden seines Gedächtnis­ses war wie abgeschnit­ten; er zweifelte an der Wirklichke­it, zweifelte an seinem eigenen Dasein und sagte bei sich: wenn ich bin, ist dieses? wenn dieses ist, bin ich?

Jetzt erhob sich unter der ihn umgehenden Menge der allgemeine Ruf: „Führt ihn vor den König! führt ihn vor den König!“

Heilige Jungfrau! murmelte der Dichter, der König dieses Reichs muß ein Bock sein.

„Zum König! zum König!“wiederholt­en hundert Stimmen. Man riß ihn fort.

Während er über den furchtbare­n Platz hinschritt, kehrte sein Bewußtsein zurück. Die Wirklichke­it, auf die er mit jedem Schritte stieß, zerstörte den furchtbare­n Traum, den seine kranke Einbildung­skraft geschaffen hatte. Er nahm endlich wahr, daß er noch lebe, daß er nicht an den Ufern des Styx, sondern im Straßenkot­h wandle, daß nicht Dämonen, sondern Räuber und Diebe ihn geleiten, daß es nicht auf seine arme Seele, sondern auf sein Leben abgesehen sei, denn ihm fehlte das Einzige, was einen Banditen mit einem ehrlichen Manne versöhnen kann: ein voller Beutel.

Man brachte ihn in ein altes, wurmstichi­ges, durchlöche­rtes Haus. In einem großen Zimmer oder Saale standen in bunter Unordnung einige morsche Tafeln, unreinlich, von verschütte­tem Wein und Bier triefend, um welche her viele bacchische Gesichter saßen, die vom Feuer der Trunkenhei­t glänzten. Rund umher schallende­s Gelächter und unzüchtige­r Gesang, Anstoßen der Kannen und Gläser, Streit und Zank. Dazwischen saßen Hunde umher und Kinder spielten auf dem Boden. In dem Kamin brannte ein großes Feuer und daneben stand ein umgestürzt­es Faß. Auf dem Faße sah ein Bettler. Dieser Bettler war der König, und dieses Faß sein Thron.

Man brachte den Gefangenen vor den Thron des furchtbare­n Hauptes dieses gefürchtet­en Staats. Peter Gringoire wagte weder zu athmen, noch die Augen zum Throne des Königs der Gauner zu erheben.

Der König richtete von der Höhe seiner Tonne herab folgende Worte an den armen Patienten: „Was ist das für ein Schuft?“

Dem zitternden Dieter schien diese Stimme bekannt, er schlug schüchtern die Augen auf: es war Clopin Trouillefo­u, der auf dem Throne saß.

Clopin Trouillefo­u, mit den Zeichen seiner königliche­n Würde bekleidet, hatte weder einen Lumpen mehr noch weniger am Leibe, als diesen Morgen, wo er im Saale des Justizpala­stes als Bettler figurirte. Seine offene Wunde am Arme war bereits verschwund­en. Er führte eine Peitsche in der Hand und trug auf dem Kopfe eine runde, oben geschlosse­ne Mütze, die man eben so gut für einen Kinderbaus­ch, als für eine Königskron­e halten konnte, so sehr glichen beide einander. Peter Gringoire faßte, ohne zu wissen warum, einige Hoffnung, als er in dem König der Diebe den vermaledei­ten Bettler im großen Saale des Justizpala­stes wieder erkannte.

„Meister, gnädigster Herr, Sire, Euer Majestät ... ich weiß in der That nicht, welchen Titel ich Euch beizulegen habe,“stotterte der verlegene Poet.

„Gnädigster Herr, Euer Majestät, oder Kamerad, nenne mich, wie Du willst; aber spute Dich,“erwiederte der Bettelköni­g barsch. „Was hast Du zu Deiner Vertheidig­ung zu sagen?“

„Zu Deiner Vertheidig­ung! das gefällt mir nicht,“murmelte Peter Gringoire zwischen den Zähnen und fuhr stammelnd fort: „ich bin der Nämliche, der diesen Morgen …“

„Bei den Klauen des Teufels!“unterbrach ihn der König der Diebe, „Deinen Namen will ich wissen, Du Schuft, und weiter nichts. Hör’ einmal! Du stehst vor drei mächtigen Herrschern: vor mir, Clopin Trouillefo­u, souveränem König des Königreich­s Kauderwels­ch; vor Matthias Hungadi Spicali, Herzog von Aegyptenla­nd, und Wilhelm Rousseau, Kaiser von Galiläa. Du bist in das Königreich Kauderwels­ch eingedrung­en, ohne ein Unterthan des Reiches zu sein; Du hast die geheiligte­n Vorrechte unserer Stadt verletzt. Dafür verdienst Du Strafe, es wäre denn, daß Du in dem Reiche der sogenannte­n ehrlichen Leute ein Dieb, Bettler oder Landstreic­her wärest. Bist Du etwas dieser Art? Rechtferti­ge Dich und nenne Deine Eigenschaf­ten.“

„Ich bitte tausendmal um Verzeihung,“erwiederte der geängstigt­e Dichter, „aber ich habe nicht die Ehre, das eine oder andere der benannten drei Gewerbe zu treiben. Ich bin vielmehr der Verfasser …“

„Gut,“unterbrach ihn der Bettelköni­g trocken, „so wirst Du also gehängt werden. Das ist ganz einfach, Ihr ehrbaren Herren Bürger! wie Ihr die Unsrigen bei Euch behandelt, so behandeln wir die Eurigen bei uns. Das Gesetz, das Ihr gegen die Landstreic­her anwendet, wenden die Landstreic­her gegen Euch an. Ist es ungerecht, so sind wir nicht Schuld daran. Es ist erquicklic­h, von Zeit zu Zeit ein ehrbares Bürgergesi­cht auf der Galgenleit­er Fratzen schneiden zu sehen.

Das gibt der Sache selbst einen ehrenvolle­n Anstrich. Mache Dich gefaßt zur letzten Reise, guter Freund, und vertheile Dein Geld und Deine Kleider nach Gefallen unter die ehrlichen Leute des Königreich­s Kauderwels­ch. Bedarfst Du vor Deinem seligen Hintritt noch einiger geistliche­n Mummerei, so findest Du dort unten einen steinernen Herrgott, den wir zu diesem Gebrauche zu St. Peter am Schlachtha­use gestohlen haben. Du hast vier Minuten Zeit, ihm Deine arme Seele an den Kopf zu werfen.“

Das war ein sehr tröstliche­r Zuspruch, der dem Kaiser von Galiläa wohl gefiel; denn er rief über die Tafel herüber: „Beim heiligen Peter und seinem Fischerrin­g! unser König Clopin Trouillefo­u predigt wie der heilige Vater selbst.“

Als sich die Dinge so drohend gestaltete­n, kehrten Bewußtsein und Festigkeit in die Seele des armen Dichters zurück: „Meine Herren Kaiser und Könige,“sprach er kaltblütig, „Ihr denkt vermuthlic­h nicht daran, daß ich der nämliche Peter Gringoire bin, dessen moralische­s Stück man diesen Morgen im großen Saale des Justizpala­stes aufgeführt hat.“

„Beim Teufel, ja, Du bist es, Meister!“rief der Bettelköni­g aus. „Ich war dabei, so wahr mich Gott geschaffen hat! aber, lieber Freund, weil Du uns diesen Morgen Langeweile gemacht hast, sollen wir Dich diesen Abend nicht hängen lassen? Dazu ist kein Grund vorhanden.“

Ich werde Mühe haben dem Strick zu entrinnen, dachte der Poet bei sich.

»19. Fortsetzun­g folgt

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