Schwabmünchner Allgemeine

Toll treiben es die alten Römer

Premiere Immer nur Arien und Rezitative? In Barrie Koskys „Agrippina“kommt die Barockoper in Bewegung

- VON STEFAN DOSCH

München „Viva il caro Sassone!“bejubelte das venezianis­che Publikum den „lieben Sachsen“Händel nach der Uraufführu­ng von dessen Oper „Agrippina“, und auch jetzt war der Beifall stürmisch nach der Premiere der Neuinszeni­erung im Münchner Prinzregen­tentheater. Wenngleich die Ovationen nun primär den Interprete­n galten, gerade auch dem Regisseur Barrie Kosky. Sorgt der doch dafür, dass dieses Muster einer Händel-Oper mit seinem barocktypi­schen Schema von stereotyp wechselnde­n Arien und Rezitative­n zu einer Angelegenh­eit von Witz, Herz und Gedanke wird.

Im Zentrum der Oper steht die römische Kaiserin Agrippina, die ihren aus früherer Verbindung stammenden Sohn Nero an die Macht bringen will, wofür ihr jede Intrige recht ist. Aber auch alle anderen um sie herum, Kaiser Claudius, sein Feldherr Ottone, dessen Angebetete Poppea und natürlich Nero, sind in Sachen Arglist nicht von Pappe – ein antikes „House of Cards“-Ränkespiel hat Kosky das in Anspielung auf die Netflix-Serie genannt. Trotzdem hat der Regisseur darauf verzichtet, das Ränkespiel in Ort und Zeit konkret festzuzurr­en. Der zweistöcki­ge, auf der Bühne bewegliche und multifunkt­ionale Kubus, den Bühnenbild­nerin Rebecca Ringst als Spielstätt­e entworfen hat, ist trotz seines Edelstahl-Gerüsts und seiner vielen Jalousien weniger eine Metapher fürs Hier und Heute denn visuelle-überzeitli­ches Signet für die Kälte und das Geheimnisk­rämertum der Macht, nach der alle streben und die für Agrippina & Co. die entscheide­nde Triebfeder jeglichen Tuns ist.

Wunderbar, wie Kosky aus dürren Libretto-Schemen Menschen von Fleisch und Blut formt. Wobei die Männer sämtlich mit einem Zug ins Trottelige gezeichnet sind – allesamt Sklaven ihrer Gelüste, was vor allem Agrippina gezielt zu instrument­alisieren versteht und weshalb denn auch reichlich gefingert und gegrapscht wird in dieser Inszenieru­ng. Sehr vergnüglic­h auch, wie die Regie das ewige Deklamiere­n und Gefühlsaus­singen in Bewegung überträgt, bis hin zu temporeich­em Tür-auf-Tür-zu-Geklapper und einer hinterlist­igen Szene für Nero: Der begibt sich bei einer Arie, in welcher er sich als Volkes’ Wohltäter aufspielt, mitten ins Publikum, um den „Elenden Trost zu reichen“– was in Anbetracht der versammelt­en München-Schickeria natürlich zum Kichern ist. Dennoch, und nicht zuletzt das macht die Stärke seiner Inszenieru­ng aus, bedient sich Kosky nicht nur aus dem Fundus der Farce, sondern bringt gegen Ende der Handlung auch einen herzlichen Ton ins Spiel: Amor vincit – die Liebe vermag zumindest einige der Akteure zu rühren, ein bisschen jedenfalls. Und im Schlussbil­d lässt Kosky sogar Agrippina nachdenkli­ch werden.

Einmal mehr ist in München Ivor Bolton der Mann fürs Barocke. Ein Dirigent, der die Affekte der Musik regelrecht mit Händen zelebriert und für mächtigen Drive vor allem dadurch sorgt, dass er die einzelnen Nummern hart aneinander zu einem soghaften Kontinuum fügt. Die Barockabte­ilung des Staatsorch­esters lässt sich bereitwill­ig mitnehmen von Boltons entschiede­nen Gesten, und der unter anderem mit zwei Cembali, Harfe und Theorbe besetzte Continuo sorgt für rauschhaft­e Klangmixtu­ren.

Die Sängerbese­tzung ist durchweg glänzend, aber was heißt hier Sänger: Das gesamte achtköpfig­e Ensemble versteht sich nicht minder auf das Darsteller­ische, und erst beides zusammen lässt die neue Münchner „Agrippina“zum schlagkräf­tigen Srewball-Barockbelc­anto werden. Alice Coote weiß in die zahlreiche­n Facetten der Titelparti­e vokal wandlungsr­eich auszuleuch­ten, ja in die Heimtücke ihrer Figur sogar schon ein wenig Wahnsinn hineinzule­gen, während Gianluca Buratto als ihr Gemahl Claudius den Imperator-Ton in Sekundensc­hnelle auf den eines vor Hormondruc­k zerfließen­den Männerwich­ts zusammensc­hnurren zu lassen vermag. Auch Elsa Benoit versteht sich auf Schattieru­ngen, lässt ihre Poppea mal hellsilbri­g zirzen, ein andermal dunkel-brüsk die Offerten von sich weisen. Was bei Ottone einen Gefühlswir­rwarr entfacht, den Counterten­or Iestyn Davies zu anrührende­n Lamenti nutzt. Und dann ist da noch Franco Fagioli. Schon darsteller­isch gibt er den Nero hinreißend als verschlage­nen Bastard, dem man ohne Weiteres zutraut, dass er zündeln wird an der nächsten römischen Straßeneck­e. Wie der hochliegen­de Counter dazu am Schluss der Oper triumphier­end zu trillern, durch Koloratur-Achterbahn­en zu jagen und eine allerhöchs­te Vokalspitz­e zu setzen vermag, ist derzeit wohl ohne Vergleich. Diesem Nero gebührt die Kaiserkron­e zurecht!

OStream Am 28. Juli wird „Agrippina“ab 18 Uhr kostenlos gestreamt auf www.staatsoper.tv

 ??  ?? Agrippina ist am Ziel, Nero wird Kaiser: Franco Fagioli und Alice Coote in der Münchner Händel-Neuinszeni­erung. Foto: Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper
Agrippina ist am Ziel, Nero wird Kaiser: Franco Fagioli und Alice Coote in der Münchner Händel-Neuinszeni­erung. Foto: Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper

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