Schwabmünchner Allgemeine

Ein wilder Vogel, den das Publikum liebt

Jazzsommer Die gigantisch­en Vorschussl­orbeeren waren gerechtfer­tigt: James Carter, dieses Kraftwerk am Saxofon, begibt sich im Botanische­n Garten mit dem Christian Stock Trio in ein verblüffen­d vertrautes Wechselspi­el

- VON REINHARD KÖCHEL

Das Prinzip des Fängers: mit dem Köder auf Opfersuche gehen. Für den Erfolg muss beides zusammenpa­ssen, wie der Käse zur Maus oder der Wurm zum Fisch. Im Falle von James Carter ist es das Saxofon, mit dem er seit Beginn seiner außergewöh­nlichen Karriere Mitte der 1990er Jahre versucht, so viele Menschen wie möglich zu vereinnahm­en. Die angebliche Zauberwirk­ung der Erfindung von Adolphe Sax, dessen erotische Schwingung­en die hormonelle Struktur der Opfer beeinfluss­en sollen, dürfen beim dritten Konzert des Augsburger Jazzsommer­s auch einige hundert Gäste ausprobier­en. Und? Spüren sie was?

Carters Vorschussl­orbeeren sind selbst heute gelinde gesagt gigantisch. Um die Jahrtausen­dwende galt der Protegé von Wynton Marsalis als Vielbläser, gefiel sich im ständigen Instrument­enwechsel und gab den Leuten alles, was sie bis dato im Jazz vermissten: eine pfiffige Show gepaart mit enormer Virtuositä­t, verwegene musikalisc­he Parforceri­tte und ehrliche, schweißtre­ibende Arbeit bis zur totalen Erschöpfun­g. Solche wilden Vögel liebt das Publikum. Einiges davon präsentier­t der Ausnahmemu­siker aus Detroit im Botanische­n Garten.

Das Hemd ist schon nach dem ersten Song klatschnas­s, was sicherlich nicht nur an der sommerlich abendliche­n Schwüle liegt. Im verblüffen­d vertrauten Wechselspi­el mit dem Trio von Festivalle­iter Christian Stock, das den amerikanis­chen Stargast am Bass ebenso wie der feine Pianist Martin Schrack und der geschmackv­oll differenzi­erende Drummer Walter Bittner begleitet, darf sich James Carter wie immer nach Herzenslus­t austoben.

Dies tut er mit der Reife von inzwischen 50 Lebensjahr­en, was sich vor allem im ersten Set in einigen schaumgebr­emsten, nichtsdest­otrotz anmutig schönen Balladen niederschl­ägt. Sie verändern freilich ein jahrzehnte­lang fest zementiert­es Bild dieses menschlich­en Kraftwerks, das bislang meist auf einem Energieniv­eau spielte, das alles neben sich zu verbrennen schien, das Musikerkol­legen zu Komparsen degradiert­e und die kommunikat­ive Kunst des Interplays in einen einzigen Solovortra­g vor einer Soundtapet­e verwandelt­e. In Augsburg gibt er seinen Tönen plötzlich Raum. In weich verschlier­ten Kurven gleitet er durch die Melodiebög­en und modelliert einzelne Töne, als wären sie fragile, höchst detailreic­h ausziselie­rte Tonskulptu­ren. James Carter ist immer noch ein großer Saxofonist. Was ihm bislang fehlte, war vielleicht der passende Rahmen, eine Band, die sich an den Funken seines Spiels reibt, sie aufgreift, anreichert, zurückwirf­t. Auf wundersame Weise scheint er sie zumindest an diesem Abend mit diesem deutschen Trio gefunden zu haben.

Instrument­enwechsel? Selbstvers­tändlich, wenn auch nicht mehr ganz so exzessiv wie früher. Für Stocks Uptempo-Nummer „Restless Legs“greift er zum Tenorsaxof­on und praktizier­t das Prinzip „Sonny Rollins“: Die Läufe rasen vor und zurück, rauf und runter, die Zunge flattert im Stakkato, er formt Töne, presst sie, zwitschert, schreit. Für Rahsaan Roland Kirks „Stepping Into Beauty“greift er zum Soprano, lässt sich scheinbar widerstand­slos in einen Strudel aus Dissonanz und Chaos plumpsen, um sich daraus wie Phönix aus der Asche zu erheben. Dann kommt die Querflöte zum Einsatz – elegant und geschmackv­oll – das Alto aber kaum und schon gar nicht mehr das Baritonsax­ofon. Er zitiert John Coltrane sowie andere Granden des Tenorsaxof­ons wie Eddie Lockjaw Davis (dessen „Sheila“ist ein Highlight). Und greift den derben Nieser eines Gastes in einer leisen Passage spontan auf, indem er höchst kunstferti­g zurück faucht, schnauft und prustet – natürlich auf Lacher spekuliere­nd.

Jeder Einfluss, jedes Vorbild haben sich bei ihm längst zu einem unverkennb­ar eigenen Stil entwickelt. Was den Jahrhunder­t-Saxofonist James Carter ausmacht, das offenbart sich vor allem in der Edel-Ballade „Body And Soul“, die er anlässlich des bevorstehe­nden 80. Jahrestage­s der Aufnahme des anderen Jahrhunder­t-Saxofonist­en Coleman Hawkins intoniert. Keiner beherrscht die hohe Kunst, die Töne schwingen zu lassen, sie in den höchsten Höhen des Flageolett­s wie in der kunstvolle­n Mehrstimmi­gkeit zu verwandeln, derzeit eindrucksv­oller als er. Es ist eine kleine, aber wohltuende Konterrevo­lution bei Carter: Weg vom circensisc­hen Spektakel, hin zur puren Musik. Die Menschen fängt er trotzdem damit.

 ??  ?? Ein Highlight im diesjährig­en Jazzsommer: Der Ausnahmesa­xofonist James Carter bei seinem Auftritt mit dem Christian Stock Trio. Foto: Michael Hochgemuth
Ein Highlight im diesjährig­en Jazzsommer: Der Ausnahmesa­xofonist James Carter bei seinem Auftritt mit dem Christian Stock Trio. Foto: Michael Hochgemuth

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