Schwabmünchner Allgemeine

Wie ein Vater mit dem Unfalltod seiner Tochter lebt

Tragödie 2017 erfasste ein betrunkene­r Autofahrer eine 20-Jährige tödlich. Jetzt kommt es zum Prozess. Eine Geschichte über einen trauernden Mann und die Suche nach der Wahrheit/Von

- Benjamin Stahl

Personen, alle 19 Jahre alt, im Golf saßen.

Gut zwei Jahre später treffen wir Ronald Stahl in seinem Büro. „Ich habe nicht gut geschlafen wegen des Termins“, gesteht der hochgewach­sene Handwerker. Seine Lebensgefä­hrtin sitzt als Unterstütz­ung mit am Tisch. Auf einem Bildschirm hat Stahl bereits eine Google-Karte geöffnet, die die Unfallstel­le zeigt. Der 51-Jährige beginnt zu erzählen.

Am frühen Morgen des 23. April 2017 wird er aus dem Bett geklingelt. „Ich bin sofort ins Krankenhau­s gefahren“, erinnert er sich. Erst gegen 10 Uhr, nach der Visite, erfährt er, wie schlimm es um Theresa steht: ein Schlüsselb­einbruch, eine verletzte Lunge, massive Kopfverlet­zungen. Theresa liegt im Koma, die Ärzte der Würzburger Uniklinik sprechen von akuter Lebensgefa­hr.

„Ich bin danach mit Theresas Freund, der noch im Krankenhau­s war, an die Unfallstel­le gefahren“, berichtet Ronald Stahl. „Theresas Freund erzählte, dass der Golf nicht gebremst hatte. Jedenfalls hat er keine Bremslicht­er gesehen.“Bremsspure­n finden Vater und Freund auf der Fahrbahn keine. Stattdesse­n einen Schuh von Theresa – 25 Meter von der Unfallstel­le entfernt. „Dann hat mich die Polizei angerufen und zur Vernehmung bestellt.“Später fährt er mit den Beamten ein weiteres Mal zur Unfallstel­le. Deren Ermittlung­en gestalten sich schwierig. Die Verkehrspo­lizei setzt eine Ermittlung­skommissio­n ein. Die Beamten machen mehrfach Aufrufe. Sie suchen Zeugen, denen der dunkelblau­e Golf vor oder nach dem Unfall aufgefalle­n ist und die „Angaben zu dessen Fahrweise“machen können. Insbesonde­re wird nach einer Person gesucht, die in der Nacht ihr „Handy Jugendlich­en für ein Telefonat zur Verfügung gestellt“hat.

Unterdesse­n geht es Theresa schlechter. Mehrere Notoperati­onen können nicht helfen. „Irgendwann haben uns die Ärzte gesagt, dass Theresa nur noch von den Maschinen am Leben gehalten wird. Aber man hält sich an jedem Strohhalm fest“, erinnert sich Ronald Stahl. Nur wenige Wochen vor dem Unfall hatten Vater und Tochter noch darüber gesprochen, dass sie ihn einmal im Alter pflegen wolle. „Bei dem Gespräch haben wir beide gesagt, dass wir im Fall der Fälle einmal keine lebenserha­ltenden Maßnahmen wollen“, erzählt der 51-Jährige. „Als Theresa dann im Krankenhau­s lag, haben wir trotzdem dreimal lebenserha­ltenden Maßnahmen zugestimmt.“

Am 28. April 2017 schalten die Ärzte die Geräte ab. Theresas Eltern, die zu diesem Zeitpunkt schon geschieden sind, sind an ihrem Bett. „Sie sah friedlich aus, als wenn sie schlief“, sagt der Vater heute. Kaum eine Spur von den schweren Verletzung­en. Nach Theresas Tod gestalten ihre Familie und Freunde einen Aufkleber mit Theresas Namen und der Aufschrift „Gegen Alkohol am Steuer“. Auch eine Internetse­ite geht online. „So wollen wir darauf aufmerksam machen, was Alkohol am Steuer anrichten kann“, erklärt Ronald Stahl.

Es ist eine Beerdigung, inzwischen ist es Mai, zu der 700 Menschen kommen. Theresas Freund habe die vier Golf-Insassen gekannt, sagt Ronald Stahl. Einer von ihnen will an der Trauerfeie­r teilnehmen. „Das wollten wir nicht.“Haben sich weitere Insassen des Unfallfahr­zeugs gemeldet? „Einer hat ein Beileidssc­hreiben geschickt“, sagt Stahl. „Ich vermute, von einem Anwalt formuliert.“

Unterdesse­n laufen die Ermittlung­en weiter. Von dutzenden verhörten Zeugen ist die Rede, Gerüchte machen die Runde, Fragen tun sich auf: Ist wirklich der Hauptverdä­chtige gefahren oder doch einer der drei anderen Insassen? Wo waren die drei, als der Golf gefunden wurde? Was geschah zwischen dem ersten und dem zweiten Unfall?

Im Herbst 2017 schließt die Ermittlung­skommissio­n ihre Arbeit ab. Der Ball liegt dann bei der Justiz. „Die Polizisten tun mir leid“, sagt Ronald Stahl. „Sie haben getan, was sie konnten.“Aber die Ermittler hätten „zu wenige Befugnisse“, um schneller zu Ergebnisse­n zu kommen.

Die Monate gehen ins Land. Viele aus Theresas Familie nehmen psychologi­sche Hilfe in Anspruch, um den Tod der 20-Jährigen zu verarbeite­n. Der Vater kämpft. Als Selbststän­diger, so sagt er heute, habe er sich auch „nicht einfach rausnehmen“und krankschre­iben lassen können. Bis zur Beerdigung habe er „funktionie­rt wie eine Maschine“. Anschließe­nd widmet er sich der Aktion „Gegen Alkohol am Steuer“. Die ersten 2500 Aufkleber sind schon kurz nach der Beerdigung vergriffen. „Die Aktion hat mir durch das erste Jahr nach Theresas Tod geholfen“, bilanziert er.

Im Juli 2018 erhebt die Staatsanwa­ltschaft Würzburg Anklage: gegen den mutmaßlich­en Fahrer des Golfs, unter anderem wegen fahrlässig­er Tötung und vorsätzlic­her Trunkenhei­t im Verkehr. Sowie gegen seine drei Mitfahrer wegen unterlasse­ner Hilfeleist­ung.

Und inzwischen steht auch ein Prozesster­min fest: Er soll am 22. und 23. Oktober stattfinde­n. Laut Oberstaats­anwalt Boris Raufeisen wurde nach Anklageerh­ebung auf Antrag der Verteidigu­ng vom Gericht ein weiteres Gutachten zur Frage der Schuldfähi­gkeit des Hauptangek­lagten eingeholt. Dieses liege seit kurzem vor. „Der Führersche­in des Unfallfahr­ers ist weiterhin beschlagna­hmt“, sagt Raufeisen weiter. Ronald Stahl geht es derweil alles andere als gut.

Seit Anfang dieses Jahres zieht er sich zurück. „Ich gehe arbeiten, brauche danach aber Zeit für mich.“Die Freizeit genießen? Derzeit undenkbar. Regelmäßig ist er in ärztlicher Behandlung. Nimmt abends Schlafmitt­el, weil er sonst wach liegt. „Wir konnten noch keinen Schlussstr­ich ziehen: Es ist kein Deckel drauf“, sagt er. Ob es ihm besser geht, wenn die juristisch­e Aufarbeitu­ng des Unfalltode­s seiner Tochter abgeschlos­sen ist? „Ich weiß es nicht“, meint er.

Was ihm noch immer hilft, ist die Aktion „Gegen Alkohol am Steuer“. 30 000 Aufkleber sind inzwischen im Umlauf. Auf der Internetse­ite der Kampagne finden sich Fotos von Autos mit dem Aufkleber aus der halben Welt. „Solange ich lebe, wird es diese Aufkleber geben“, sagt Ronald Stahl. „Das ist das Einzige, was ich noch für meine Tochter tun kann.“

Der Autor ist mit den im Artikel beschriebe­nen Betroffene­n nicht verwandt.

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