Wie ein Vater mit dem Unfalltod seiner Tochter lebt
Tragödie 2017 erfasste ein betrunkener Autofahrer eine 20-Jährige tödlich. Jetzt kommt es zum Prozess. Eine Geschichte über einen trauernden Mann und die Suche nach der Wahrheit/Von
Personen, alle 19 Jahre alt, im Golf saßen.
Gut zwei Jahre später treffen wir Ronald Stahl in seinem Büro. „Ich habe nicht gut geschlafen wegen des Termins“, gesteht der hochgewachsene Handwerker. Seine Lebensgefährtin sitzt als Unterstützung mit am Tisch. Auf einem Bildschirm hat Stahl bereits eine Google-Karte geöffnet, die die Unfallstelle zeigt. Der 51-Jährige beginnt zu erzählen.
Am frühen Morgen des 23. April 2017 wird er aus dem Bett geklingelt. „Ich bin sofort ins Krankenhaus gefahren“, erinnert er sich. Erst gegen 10 Uhr, nach der Visite, erfährt er, wie schlimm es um Theresa steht: ein Schlüsselbeinbruch, eine verletzte Lunge, massive Kopfverletzungen. Theresa liegt im Koma, die Ärzte der Würzburger Uniklinik sprechen von akuter Lebensgefahr.
„Ich bin danach mit Theresas Freund, der noch im Krankenhaus war, an die Unfallstelle gefahren“, berichtet Ronald Stahl. „Theresas Freund erzählte, dass der Golf nicht gebremst hatte. Jedenfalls hat er keine Bremslichter gesehen.“Bremsspuren finden Vater und Freund auf der Fahrbahn keine. Stattdessen einen Schuh von Theresa – 25 Meter von der Unfallstelle entfernt. „Dann hat mich die Polizei angerufen und zur Vernehmung bestellt.“Später fährt er mit den Beamten ein weiteres Mal zur Unfallstelle. Deren Ermittlungen gestalten sich schwierig. Die Verkehrspolizei setzt eine Ermittlungskommission ein. Die Beamten machen mehrfach Aufrufe. Sie suchen Zeugen, denen der dunkelblaue Golf vor oder nach dem Unfall aufgefallen ist und die „Angaben zu dessen Fahrweise“machen können. Insbesondere wird nach einer Person gesucht, die in der Nacht ihr „Handy Jugendlichen für ein Telefonat zur Verfügung gestellt“hat.
Unterdessen geht es Theresa schlechter. Mehrere Notoperationen können nicht helfen. „Irgendwann haben uns die Ärzte gesagt, dass Theresa nur noch von den Maschinen am Leben gehalten wird. Aber man hält sich an jedem Strohhalm fest“, erinnert sich Ronald Stahl. Nur wenige Wochen vor dem Unfall hatten Vater und Tochter noch darüber gesprochen, dass sie ihn einmal im Alter pflegen wolle. „Bei dem Gespräch haben wir beide gesagt, dass wir im Fall der Fälle einmal keine lebenserhaltenden Maßnahmen wollen“, erzählt der 51-Jährige. „Als Theresa dann im Krankenhaus lag, haben wir trotzdem dreimal lebenserhaltenden Maßnahmen zugestimmt.“
Am 28. April 2017 schalten die Ärzte die Geräte ab. Theresas Eltern, die zu diesem Zeitpunkt schon geschieden sind, sind an ihrem Bett. „Sie sah friedlich aus, als wenn sie schlief“, sagt der Vater heute. Kaum eine Spur von den schweren Verletzungen. Nach Theresas Tod gestalten ihre Familie und Freunde einen Aufkleber mit Theresas Namen und der Aufschrift „Gegen Alkohol am Steuer“. Auch eine Internetseite geht online. „So wollen wir darauf aufmerksam machen, was Alkohol am Steuer anrichten kann“, erklärt Ronald Stahl.
Es ist eine Beerdigung, inzwischen ist es Mai, zu der 700 Menschen kommen. Theresas Freund habe die vier Golf-Insassen gekannt, sagt Ronald Stahl. Einer von ihnen will an der Trauerfeier teilnehmen. „Das wollten wir nicht.“Haben sich weitere Insassen des Unfallfahrzeugs gemeldet? „Einer hat ein Beileidsschreiben geschickt“, sagt Stahl. „Ich vermute, von einem Anwalt formuliert.“
Unterdessen laufen die Ermittlungen weiter. Von dutzenden verhörten Zeugen ist die Rede, Gerüchte machen die Runde, Fragen tun sich auf: Ist wirklich der Hauptverdächtige gefahren oder doch einer der drei anderen Insassen? Wo waren die drei, als der Golf gefunden wurde? Was geschah zwischen dem ersten und dem zweiten Unfall?
Im Herbst 2017 schließt die Ermittlungskommission ihre Arbeit ab. Der Ball liegt dann bei der Justiz. „Die Polizisten tun mir leid“, sagt Ronald Stahl. „Sie haben getan, was sie konnten.“Aber die Ermittler hätten „zu wenige Befugnisse“, um schneller zu Ergebnissen zu kommen.
Die Monate gehen ins Land. Viele aus Theresas Familie nehmen psychologische Hilfe in Anspruch, um den Tod der 20-Jährigen zu verarbeiten. Der Vater kämpft. Als Selbstständiger, so sagt er heute, habe er sich auch „nicht einfach rausnehmen“und krankschreiben lassen können. Bis zur Beerdigung habe er „funktioniert wie eine Maschine“. Anschließend widmet er sich der Aktion „Gegen Alkohol am Steuer“. Die ersten 2500 Aufkleber sind schon kurz nach der Beerdigung vergriffen. „Die Aktion hat mir durch das erste Jahr nach Theresas Tod geholfen“, bilanziert er.
Im Juli 2018 erhebt die Staatsanwaltschaft Würzburg Anklage: gegen den mutmaßlichen Fahrer des Golfs, unter anderem wegen fahrlässiger Tötung und vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr. Sowie gegen seine drei Mitfahrer wegen unterlassener Hilfeleistung.
Und inzwischen steht auch ein Prozesstermin fest: Er soll am 22. und 23. Oktober stattfinden. Laut Oberstaatsanwalt Boris Raufeisen wurde nach Anklageerhebung auf Antrag der Verteidigung vom Gericht ein weiteres Gutachten zur Frage der Schuldfähigkeit des Hauptangeklagten eingeholt. Dieses liege seit kurzem vor. „Der Führerschein des Unfallfahrers ist weiterhin beschlagnahmt“, sagt Raufeisen weiter. Ronald Stahl geht es derweil alles andere als gut.
Seit Anfang dieses Jahres zieht er sich zurück. „Ich gehe arbeiten, brauche danach aber Zeit für mich.“Die Freizeit genießen? Derzeit undenkbar. Regelmäßig ist er in ärztlicher Behandlung. Nimmt abends Schlafmittel, weil er sonst wach liegt. „Wir konnten noch keinen Schlussstrich ziehen: Es ist kein Deckel drauf“, sagt er. Ob es ihm besser geht, wenn die juristische Aufarbeitung des Unfalltodes seiner Tochter abgeschlossen ist? „Ich weiß es nicht“, meint er.
Was ihm noch immer hilft, ist die Aktion „Gegen Alkohol am Steuer“. 30 000 Aufkleber sind inzwischen im Umlauf. Auf der Internetseite der Kampagne finden sich Fotos von Autos mit dem Aufkleber aus der halben Welt. „Solange ich lebe, wird es diese Aufkleber geben“, sagt Ronald Stahl. „Das ist das Einzige, was ich noch für meine Tochter tun kann.“
Der Autor ist mit den im Artikel beschriebenen Betroffenen nicht verwandt.