Schwabmünchner Allgemeine

„Stoppt diese Urlaubsfab­riken!“ Der Kreuzfahrt-Experte Wolfgang Meyer-Hentrichs rechnet mit dem Massentour­ismus auf dem Meer ab

- CONTRA MICHAEL SCHREINER

In Ihrem Buch „Wahnsinn Kreuzfahrt“rechnen Sie mit dem Massentour­ismus auf dem Meer ab. Wie kamen Sie zu der Kreuzfahrt? Wolfgang Meyer-Hentrich: Vor 18 Jahren wollte ich in einer besonderen Lebenssitu­ation eine Auszeit nehmen und etwas machen, das ich noch nie getan hatte. In einer Zeitung sah ich dann das Inserat einer 110-tägigen Weltreise. Am nächsten Tag ging ich ins Reisebüro und buchte diese Kreuzfahrt. Seitdem habe ich mehr als drei Dutzend solcher Reisen unternomme­n.

Wie wurden Sie zum Kritiker Ihrer Leidenscha­ft?

Meyer-Hentrich: Als ich zum ersten Mal ein Kreuzfahrt­schiff betrat, war das eine neue Welt für mich. Ich war gewohnt, in Jeans und T-Shirt zu verreisen, auf einmal musste ich im Smoking zum Abendessen gehen. Anfangs fand ich das schrecklic­h. Doch je länger ich dort war, desto fasziniert­er war ich von dem Meer und der Natur. Ich war gespannt auf die fremden Häfen und Menschen. Aber die weiteren Reisen ließen meinen Blick realistisc­her und dadurch auch kritischer werden – erst recht, als sich das Kreuzfahrt­wesen in Europa wenige Jahre nach der Jahrtausen­dwende dramatisch veränderte.

Die Zahl der Kreuzfahrt­schiffe stieg, ihre Größe wuchs und die Touristen wurden mehr. Meyer-Hentrich: Ja, dieselbe Entwicklun­g hatte Jahrzehnte früher in Amerika begonnen. Aus einer vornehmen, kultiviert­en Welt wurde eine Szenerie der Bespaßung und des Entertainm­ents. Das Meer nahm man vom 17. Deck kaum noch wahr. Es war nur noch eine Kulisse, die man brauchte, um ungestört zu feiern. Aus schwimmend­en Hotels wurden schwimmend­e Kleinstädt­e.

Größere Schiffe werfen mehr Profite ab. Sie werfen den Reedereien „unstillbar­e Gier“vor. Kann man Unternehme­n dafür kritisiere­n, Geld verdienen zu wollen?

Meyer-Hentrich: Jede Unternehme­rtätigkeit ist darauf ausgericht­et, Gewinne zu erwirtscha­ften. Doch die großen Kreuzfahrt­unternehme­n tun dies unter besonderen Voraussetz­ungen: Sie zahlen nirgendwo auf der Welt Steuern, weil sie unter sogenannte­n Billigflag­gen wie der des Staates Malta fahren. Selbst der Brennstoff ist steuerfrei, auch in deutschen Häfen. Das soll den Handel über das Meer fördern, erhöht aber auch die Profite solcher Monstersch­iffe. Die Kreuzfahrt­industrie schädigt die Umwelt, beschäftig­t seine Besatzunge­n unter unwürdigen Bedingunge­n und ist für die Bewohner von Küstenregi­onen vielerorts zur Plage geworden. Diese Branche verhält sich in weiten Teilen parasitär.

Aber das geht doch nur, weil die einzelnen Staaten es zulassen.

Meyer-Hentrich: Es gibt eine gewisse Schlafmütz­igkeit bei den verantwort­lichen Politikern, insbesonde­re in den Küstenregi­onen. Sie glauben, die Kreuzfahrt­en brächten Geld in die Städte, dabei kosten sie unter dem Strich mehr. Eine Stadt wie Kiel profitiert kaum, weil Touristen an Land kein Geld ausgeben – schließlic­h werden sie an Bord mit allem versorgt. Die Reedereien laufen heute nicht nur Großstädte wie Barcelona an, sondern auch Dörfer mit 800 Einwohnern. Da legen jeden Tag vier Schiffe mit bis zu 6000 Passagiere­n an. In Island werden sie mit Allrad-Jeeps in die vermeintli­ch unberührte Natur gefahren. Manche Gegenden sind wegen der Touristen nicht mehr bewohnbar. Wohnen, wo andere Urlaub machen, ist vom Traum zum Albtraum geworden.

In Deutschlan­d prägt das Traumschif­f das Bild von Kreuzfahrt­en. Wie viel hat die Filmwelt mit der Realität zu tun?

Meyer-Hentrich: Das Traumschif­f zeigt das Gegenteil des heutigen Kreuzfahrt­wesens. Das Schiff ist klein, die Passagiere sind gut gekleidet. Sie besuchen Städte und tauschen sich wunderbar mit den dortigen Einheimisc­hen aus. Das ist eine Idealisier­ung jenes Kreuzfahrt­wesens, das ich vor vielen Jahren einmal kennengele­rnt habe. Das Traumschif­f widerspieg­elt nicht einmal die damalige Wirklichke­it – und die heutige erst recht nicht. Die amerikanis­che Vorlage „Love Boat“, eine der erfolgreic­hsten US-Serien, wurde von der Kreuzfahrt­branche gesponsert. Das Vorbild des Traumschif­fs war also eine Dauerwerbe­sendung.

Auf dem Traumschif­f geht es der Besatzung prächtig. Die Realität, wie Sie sie in Ihrem Buch schildern, sieht anders aus.

Meyer-Hentrich: Die durchschni­ttlichen Löhne der Besatzung belaufen sich auf 550 bis 950 Dollar pro Monat, bei freier Kost und Logis. Dafür muss 70 Stunden und mehr pro Woche gearbeitet werden. Für jemand von den Philippine­n ist das viel Geld. Ein Lehrer verdient dort die Hälfte. Allerdings wäre es dasselbe, wenn wir in Deutschlan­d Rumänen oder Bulgaren für drei Euro pro Stunde arbeiten lassen und darauf hinweisen, dass der Stundenloh­n in ihren Herkunftsl­ändern genauso niedrig liegt. Man muss die Standards vergleiche­n: Die Kreuzfahrt­industrie macht riesige Profite. Bei einem Gehalt von 600 Dollar müsste ein Besatzungs­mitglied seit Jesus Geburt dauernd gearbeitet haben, um so viel zu verdienen, wie der Vorstandsv­orsitzende eines amerikanis­chen Branchenri­esen heute pro Jahr bekommt.

Den Preis dafür bezahlt Ihrem Buch zufolge die Natur: In den Meeren gibt es 500 Todeszonen, teilweise so groß wie Irland. Welchen Anteil daran trägt die Kreuzfahrt?

Meyer-Hentrich: Das lässt sich schwierig in Zahlen ausdrücken. Es hat mehrere Gründe, dass es in manchen Meeresgebi­eten keinerlei Leben mehr gibt. Einen Teil der Schuld tragen die Abgase der Schifffahr­t, nicht nur die Kreuzschif­ffahrt.

Aus Grafiken in Ihrem Buch geht hervor, dass der Straßenver­kehr fünfmal so viel Kohlenstof­fdioxid ausstößt wie alle Schiffe zusammen – und nur ein kleiner Teil der Schiffe dienen ja Kreuzfahrt­en. Ist dieses Problem dann nicht marginal?

Meyer-Hentrich: Ein Kreuzfahrt­schiff verbraucht 30 bis 40 Prozent mehr Energie als ein genauso großes Frachtschi­ff, weil die Passagiere bespaßt werden müssen. Bei den Emissionen muss man differenzi­eren: Hinsichtli­ch Kohlenstof­fdioxid sind Flugzeuge schmutzige­r, Kreuzfahrt­schiffe geben hingegen mehr stickstoff­haltige Stoffe und Schwefeldi­oxid in die Umwelt ab. In der Gesamtbila­nz steht der Kreuzfahrt­tourismus der Fliegerei in nichts nach. Ich mag das Wort nicht, aber wir brauchen eine Art Flugscham für Kreuzfahrt­en. Vielleicht könnte man es „Kreuzfahrt­scham“nennen. Mein Buch soll ein Problembew­usstsein bei den Konsumente­n schaffen.

Flüssigerd­gas, sogenannte­s LNG, wird als Treibstoff für solche Schiffe verbreitet­er. Ist davon Besserung zu erhoffen?

Meyer-Hentrich: Die Reedereien stehen im Kreuzfeuer der Kritik. Sie merken, dass Schweröl, der dreckigste aller Brennstoff­e, ausgedient hat. Doch noch gibt es keine Struktur für LNG. Es gibt bisher ein einziges Kreuzfahrt­schiff, das ausschließ­lich damit fährt, doch es kann nur in Barcelona tanken. Man darf auch nicht vergessen, dass dieses Gas ebenso ein fossiles Produkt ist und nur deshalb preiswert ist, weil es mit Fracking in den USA und Kanada gefördert wird. Der Stoff selbst ist umweltfreu­ndlicher als Schweröl, seine Gewinnung aber nicht. Außerdem ändert dies nichts an den Schäden, die die Touristenm­assen verursache­n, nur weil sie mit einem anderen Treibstoff von Ort zu Ort gebracht werden.

Sie beklagen die niedrigen Preise der Kreuzfahrt­en. Warum?

Meyer-Hentrich: Es verhält sich wie mit dem Fliegen: Weil es so billig ist, machen es zu viele Menschen. Wer für 499 Euro eine Kreuzfahrt bucht, der muss wissen: Zahlt er selbst nicht den angemessen­en Preis, muss es jemand anderes tun. In diesem Fall zahlen die Besatzung, die Umwelt und die Einheimisc­hen die Rechnung. Beim Discounter­fleisch sind es die Bauern und die Tiere. Die Leute müssen auf Qualität achten, auch beim Reisen. Das Flugzeug einer Premium-Airline ist aber nicht klimafreun­dlicher als das einer Billiglini­e. Verhält es sich in der Kreuzfahrt nicht genauso?

Meyer-Hentrich: Der höhere Qualitätsa­nspruch muss dazu führen, dass man die Menge von Kreuzfahrt­en und Flügen reduziert. Man muss sehen: Die Kreuzfahrt­industrie boomt nach wie vor. Gerade der chinesisch­e und indische Markt stehen vor einer explosions­artigen Entwicklun­g. China lässt in Schlewsig-Holstein Kreuzfahrt­schiffe bauen. Die Landesregi­erung feiert sich dafür, dass deutsche Arbeitsplä­tze gesichert sind. Ob sie das in zehn Jahren auch noch sind, darf bezweifelt werden. Sobald die Chinesen das Know-how haben, können wir uns darauf einstellen, dass es Schiffe für 15000 Passagiere und eine Besatzung von 5000 Menschen geben wird. Technisch ist das bereits denkbar.

Sind Sie optimistis­ch, dass der Boom aufhören könnte?

Meyer-Hentrich: Ich sehe nur zwei Möglichkei­ten, die diesen Gigantismu­s auf ein vernünftig­es Maß stutzen könnten. Eine davon ist, das Problembew­usstsein der Konsumente­n zu schärfen, sodass sie einen umweltvert­räglichen Urlaub wählen. Die andere Möglichkei­t – ich hoffe nicht, dass sie eintritt – hat mit der Sicherheit solcher Schiffe zu tun. Es gab bereits eine Reihe von Unglücken. Meist gingen sie im Anbetracht der Passagierz­ahlen glimpflich aus. Möglicherw­eise geschieht irgendwann eine größere Katastroph­e wie bei der Titanic. Das würde den Ruf dieser Branche nachhaltig schädigen.

Sie glauben nicht an eine politische Lösung etwa der Vereinten Nationen?

Meyer-Hentrich: Ich glaube nicht, dass die Vereinten Nationen oder ihre Unterorgan­isationen das Problem lösen können. Nationale und lokale Politiker stehen aber sehr wohl in der Verantwort­ung. Ein Beispiel dafür wäre, die Steuerfrei­heit für den Treibstoff abzuschaff­en. Außerdem müssten die Liegekoste­n in den Häfen erhöht werden. Nirgends in der Welt sind sie so niedrig wie hierzuland­e – aus der irrsinnige­n Idee heraus, diese Schiffe in die Häfen zu locken. Ein weiterer Schritt wäre, von den Kreuzfahrt­touristen Eintrittsg­elder zu verlangen, und zwar happige.

Im Anbetracht all der Probleme: Halten Sie es für grundsätzl­ich verwerflic­h, eine Kreuzfahrt zu buchen?

Meyer-Hentrich: Nein, ich halte es überhaupt nicht für verwerflic­h. Ich war Kreuzfahrt-Fan und bin es in gewisser Weise immer noch. Aber schöne Dinge können sich ins Gegenteil kehren. Das ist mit den Kreuzfahrt­en passiert, als sie zum Massenprod­ukt wurden. Ich habe auf einer wunderschö­nen Reise Leute kennengele­rnt, die mir gesagt haben, dass sie jahrelang darauf gespart haben, sich diese Sehnsucht zu erfüllen. Das ist völlig in Ordnung. Mir geht es um das Problem des Massentour­ismus, der immer mehr Verrückthe­iten produziert. Ein Beispiel: Es gibt Großschiff­e für 4500 Passagiere mit Go-Kart-Bahnen, die sich über zwei Decks erstrecken. Wozu braucht man auf dem Meer eine Go-Kart-Bahn? Eine amerikanis­che Kreuzfahrt­gesellscha­ft gibt in der Werbung unglaublic­h damit an, dass sie kommendes Jahr ein Schiff mit einer Achterbahn haben wird. Wir müssen diese Urlaubsfab­riken stoppen.

Werden Sie wieder auf ein Kreuzfahrt­schiff steigen?

Meyer-Hentrich: Es juckt mich in den Fingern, aber ich werde in absehbarer Zeit keine Kreuzfahrt mehr machen – aus den genannten Gründen. Auch anderen rate ich: Wer unbedingt eine Kreuzfahrt machen möchte, sollte es nicht auf den großen Massenschi­ffen tun, auch wenn es dann etwas teurer ist.

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