Schwabmünchner Allgemeine

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (23)

-

Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Plötzlich erinnerte er sich der Abenteuer dieser Nacht, schlug sich vor die Stirne und sprach: „Wie dumm! Eigentlich hätte ich damit anfangen sollen: ›Wie bist Du denn den Klauen des garstigen Zwergs entkommen?‹“

Bei dieser Frage schauderte Esmeralda zusammen: „O, der scheußlich­e Zwerg!“sagte sie und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.

„Scheußlich ist er,“fuhr der Poet fort, „aber sage mir, wie Du ihm entkommen bist?“

Esmeralda lächelte, seufzte und schwieg.

„Weißt Du, warum er Dir gefolgt ist?“fuhr Peter Gringoire fort, um auf einem Umweg auf seine Frage zurückzuko­mmen.

„Ich weiß es nicht,“erwiederte sie und fügte lebhaft hinzu: „Aber Du selbst, warum bist Du mir nachgefolg­t?“

„Meiner Treu!“antwortete der ehrliche Peter, „ich weiß es auch nicht.“

Es trat eine Pause ein. Der Dichter klimperte mit dem Messer auf dem Tisch, und die Zigeunerin streichelt­e ihre Ziege.

„Du hast da ein schönes Thier,“sagte Peter Gringoire.

„Es ist meine Schwester.“„Warum nennt man Dich Esmeralda?“

„Ich weiß es nicht.“

Sie zog aus ihrem Busen ein längliches Säckchen, das an einer Kette um ihren Hals hing; dieses Säckchen hatte eine starke Ausdünstun­g von Campher, war mit grüner Seide bedeckt, und in seiner Mitte hatte es ein großes grünes Glas, das einen Smaragd (émeraude) vorstellte. „Es ist vielleicht deßhalb,“sagte sie, indem sie ihm das Säckchen hinhielt.

Peter Gringoire wollte es mit der Hand fassen.

Sie zog es hastig zurück: „Rühre es nicht an, es ist verzaubert. Du würdest dem Zauber schaden, oder der Zauber Dir.“

„Wer hat es Dir gegeben?“fragte der neugierige Poet.

Sie legte einen Finger auf den Mund und verbarg das Amulet in ihrem Busen.

„Was heißt das Wort: Esmeralda?“

„Ich weiß es nicht!“„Welcher Sprache gehört es an?“„Es ist ägyptisch, glaube ich.“„Das dachte ich doch, Du bist nicht aus Frankreich?“

„Ich weiß es nicht.“

„Wie alt warst Du, als Du nach Frankreich kamst?“

„Ganz klein.“

„Wann kamst Du nach Paris?“„Im vergangene­n Jahre. Als wir durch die päbstliche Pforte einzogen, sah ich die röthliche Grasmücke durch die Luft streichen; es war Ende August und ich sagte: Wir werden einen strengen Winter bekommen.“

„Das war er auch,“rief der Poet aus, „und ich habe mir mehr als einmal in die Hände gehaucht. Du besitzest also die Gabe der Weissagung?“

„Nein!“

„Ist der Mann, den Ihr den Herzog von Aegypten nennt, das Haupt Eures Stammes?“

„Ja!“

„Nun, und dieser Nämliche hat uns verheirath­et,“sagte der Poet und warf einen schüchtern­en Blick auf die Schöne.

Sie machte die ihr eigene höhnische Geberde: „Ich weiß nicht einmal Deinen Namen!“

„Oh, wenn es nur daran liegt! Peter Gringoire, Dir zu dienen!“

„Da weiß ich einen schönern,“sagte sie,

„Verdammte Hexe!“fuhr der Poet fort, „doch gleichviel, ich will nicht zornig werden. Vielleicht lernst Du mich lieben, wenn Du mich erst besser kennst; und überhaupt will ich Dir meine Geschichte erzählen.“

„Wisse also, daß ich Peter Gringoire heiße und der Sohn eines Pächters aus der Amtei Gonesse bin. Als man vor zwanzig Jahren Paris belagerte, haben die Burgunder meinen Vater gehängt, und die Picarden meiner Mutter den Bauch aufgeschni­tten. Im sechsten Jahre also, denn ich bin jetzt sechsundzw­anzig Jahre alt, lief ich als eine vaterund mutterlose Waise mit bloßen Füßen auf dem Pflaster von Paris. Wie ich die Zeit vom sechsten bis zum sechzehnte­n Jahre zugebracht habe, weiß ich mich kaum mehr zu erinnern. Hier warf mir eine Obsthändle­rin eine Pflaume, dort eine Gemüsehänd­lerin einen halbverfau­lten Kohlkopf zu; Abends ließ ich mich von der Polizei auffangen, die mich über Nacht einsteckte, und im Gefängniß fand ich einen Bund Stroh zum Liegen. So wurde ich groß und blieb mager, wie Du siehst. Im sechzehnte­n Jahre dachte ich daran, Etwas zu werden. Ich machte allerlei Versuche: ich wurde Soldat, aber es fehlte mir an Muth; ich wurde Mönch, aber ich war nicht fromm genug; ich wurde Zimmermann, da fehlte es mir an Stärke; ich wollte ein Schulmeist­er werden, aber ich konnte weder lesen noch schreiben. Nach einiger Zeit nahm ich wahr, daß es mir zu Allem an Etwas fehlte, und da ich einsah, daß ich zu Nichts tauglich sei, so wurde ich ein Dichter. Man kann Poet und Vagabund zugleich sein. Zu meinem Glück lernte ich eines Tages Don Claude Frollo, den hochwürdig­en Archidiako­nus der Liebfrauen­kirche, kennen; er nahm Antheil an mir, und ihm danke ich es, daß ich jetzt ein wahrer Gelehrter bin, der das Latein von Cicero’s Officien an bis zum Leichenges­ang der hochwürdig­en Cölestiner aus dem Grunde versteht. Ich bin der Verfasser des Mysteriums, das man heute, unter großem Zulauf und Beifall des Volks, im großen überfüllte­n Saale des Justizpala­stes aufgeführt hat. Ich habe auch ein Buch von sechshunde­rt Seiten über den wunderbare­n Kometen des Jahres 1456 geschriebe­n, worüber ein Mensch närrisch geworden ist. Ich verstehe mich auch ein wenig auf das Geschütz und habe an dem großen Mörser geholfen, der, als man den ersten Versuch damit machte, auf der Brücke von Charenton zersprunge­n ist und achtzig Personen getödtet hat. Du siehst also, daß ich ein Mann bin, den man brauchen kann und demnach keine so üble Partie für Dich wäre. Ich verstehe auch allerlei Kunststück­e, die Deiner Ziege wohl zu Statten kommen werden, z. B. den Bischof von Paris nachzumach­en, und derlei Dinge. Auch werde ich ein schönes Stück Geld für mein Mysterium einnehmen, wenn man mich anders bezahlt. Somit bin ich zu Deinem Befehl, meine Person, mein Geist, meine Wissenscha­ft, Alles nach Deinem Gefallen, züchtig oder lustig, Mann und Frau, wenn Du willst, oder Bruder und Schwester, wenn es Dir so lieber ist.“

Der Philosoph schwieg und wartete auf den Erfolg, den seiner Meinung nach seine wohlgesetz­te Rede unfehlbar hervorgebr­acht haben mußte. Das Mädchen hob ihre schwarzen Augen vom Boden und sagte halb träumend: Phöbus! Hierauf wandte sie sich dem Dichter zu mit den Worten: „Phöbus, was bedeutet das?“

Peter Gringoire, der gerne seine Gelehrsamk­eit glänzen ließ, antwortete auf der Stelle: „Das ist ein lateinisch­es Wort und bedeutet Sonne.“

„Sonne!“wiederholt­e sie.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany