Schwabmünchner Allgemeine

Frauenpowe­r in Oberhausen

Sommerseri­e Es geht los an unserem mobilen Schreibtis­ch vor der Werner-Egk-Grundschul­e. Schon sind wir mitten im Gespräch mit Menschen, denen der Stadtteil besonders am Herzen liegt. Leuten, die etwas bewegen wollen

- VON RICHARD MAYR UND MICHAEL SCHREINER

Wo sind wir hier? In einem Problemsta­dtteil? In Augsburgs Hinterhof? In einem Viertel, das allein mehr verkanntes Potenzial hat als viele andere Stadtteile zusammen? Im armen Ausländerg­etto der Stadt? Im spannendst­en, vitalsten Eck Augsburgs? Eva Kerig lebt hier. Sie sagt an diesem Dienstagna­chmittag: „Meine Tochter wohnt in München und meinte neulich: Mutti, du wirst es noch erleben, das hier wird das Multi-Kulti-In-Viertel der Stadt!“Oberhausen also.

Wir haben unsere mobilen Schreibtis­che auf dem Platz vor der Werner Egk-Schule aufgebaut. Hier war früher das Herz des alten Dorfes Oberhausen, das dann mit den Arbeiterwo­hnvierteln rechts und links der Wertach zu dem 1911 eingemeind­eten Stadtteil Oberhausen wurde. 28500 Menschen leben in Oberhausen. Ein paar davon lernen wir kennen zum Auftakt unsere Sommerseri­e „Kultur aus Oberhausen“. Es sind Leute, denen der Stadtteil besonders am Herzen liegt. Leute, die etwas bewegen wollen und schon viel bewegt haben.

Oliver Frühschütz zum Beispiel. Er hat bis zum allerletzt­en Tag des Betriebs als Elektriker im Gaswerk in Oberhausen gearbeitet. Das war der 31. März 2001. Er schrieb an diesem denkwürdig­en Tag einen Erinnerung­szettel, steckte ihn in seine Arbeitshos­e und hängte die unterm Dach des Gaskessels auf – dem Wahrzeiche­n Oberhausen­s. Dort oben hängt die Hose heute noch immer. Frühschütz kümmert sich um das Gaswerkare­al, er ist Vorsitzend­er des Vereins Gaswerksfr­eunde Augsburg. Sie erforschen das Industried­enkmal, sie bieten Führungen an, werben für diesen einzigarti­gen Ort der Augsburger Geschichte.

Oliver Frühschütz hat damals kistenweis­e Material – Alben, Bücher, Fotos, Akten – vor der Vernichtun­g gerettet. Das war lange, bevor das Staatsthea­ter einzog, Künstlerat­eliers entstanden und die Wertschätz­ung für das Denkmal in der Stadtgesel­lschaft angekommen ist. „Die Homepage, die ihr macht, ist absolut super“, lobt ein anderer Besucher, Johannes Wilhelms, die Arbeit von Frühschütz’ Verein. Der bezeichnet sich als „Schuber“-Schüler. Jeder an unserem Schreibtis­ch weiß, was damit gemeint ist: Auch Oliver Frühschütz hat im Museumsstü­berl der Oberhauser Historiker­in und Stadtteilf­orscherin Dr. Marianne Schuber entscheide­nde Impulse für das Interesse an der Geschichte Oberhausen­s bekommen. Marianne Schuber, inzwischen Mitte 80, ist mit ihren Büchern, mit ihrer Arbeit im Museums-Stüberl noch immer die Instanz fürs Gedächtnis des Stadtteils.

Das wissen auch die sechs Frauen von der Arbeitsgem­einschaft (Arge) Oberhausen, die sich inzwischen dazugesell­t haben. Alle Stühle, auch die eilig nachgeholt­en, sind besetzt. „Kultur aus Oberhausen“in Vollauslas­tung… Hannelore Köppl, Karin Boegler, Lydia Schmid, Marlene Schön, Ida Trummer und Ingeborg Krist verkörpern die Frauenpowe­r des Stadtteils. Sie stehen hinter dem Marktsonnt­ag (1. September), hinter dem Kirschblüt­enfest in der Ulmer Straße, hinter vielen Aktionen im und für den Stadtteil. Sie haben 2018 wieder einen Maibaum auf dem Haller-Platz errichtet. Demnächst erscheint eine eigene Zeitschrif­t. Wenn sie drei Wünsche frei hätten – was wäre das? Einen Saal, groß genug für Theater, wieder ein Kino in Oberhausen (es gab einmal vier!), ein Bürgerhaus… Und außerdem: noch mehr Stadträte, die sich einsetzen für Oberhausen. Die Arge-Frauen loben die Infrastruk­tur ihres Stadtteils („zwei Trams, ein Bus, fünf Minuten bis zur Auto

bahn, Supermärkt­e“) und schwärmen von der Atmosphäre in den Straßen.

Und dann sind die Stimmen nicht mehr gut zu verstehen. Ist das jetzt Baustellen­lärm, was da plötzlich so laut dröhnt? Werden wir wieder sechs Wochen lang im Zeichen von Staub und Presslufth­ämmern ver

bringen? Nein, ein Gelenkbus, der 52er, kommt gerade angefahren. Stefan Zaum dirigiert ihn grinsend auf uns zu. Gut anderthalb Meter lang ist das Gefährt, Fahrgeräus­che macht das Unikat aber wie ein großer Bus. Schon ist unser mobiler Schreibtis­ch um eine Attraktion reicher: nicht der Bus, sondern Zaum.

Auch ein Schuber-Schüler. Der 22-Jährige, der eben bei uns Platz genommen hat, versetzt alle in Erstaunen, weil er ein grandioser Bastler ist und diesen ferngesteu­erten Gelenkbus allein zusammenge­baut hat (der Fahrer bewegt die Hände am Lenkrad, wenn es um die Kurven geht). Maßgenomme­n für den Modell-Bus hat Zaum am Original, das ihm ebenfalls gehört. Den MAN-Bus Baujahr 1998 richtet Zaum gerade her.

Eigentlich schon genug Freizeitak­tivität für einen 22-Jährigen, nicht aber für Zaum. Der ist engagierte­s Mitglied bei den Gaswerksfr­eunden – aus Überzeugun­g. Als kleines Kind war dieses IndustrieA­real das größte für ihn. Als Zaum zehn Jahre alt war, geschah es dann endlich, am 29. September 2007 wurde er Mitglied im Verein und erschloss sich damit den Abenteuers­pielplatz schlechthi­n. „Das war eine schöne Kindheit.“

Aber damit nicht genug. Mittlerwei­le hören alle am Tisch Zaum zu, denn gerade spricht er über seine Idee eines Industriem­useums. Der Jüngste in der Runde führt aus, dass Textil- und Industriem­useum gar nicht den Platz habe, um neben der Textilgesc­hichte auch die Industrieg­eschichte Augsburgs darzustell­en. Auf dem Tisch steht jetzt Zaums Nachbau der Zeuna-Stärker-Fassade – heute eine Industrieb­rache, auf der Wohnbebauu­ng im großen Stil entstehen soll. Zaum war bei den Abbrucharb­eiten dabei, hat fotografie­rt, hat alte Geräte bewahrt. „Ich brauche einen Raum und Mitstreite­r“, sagt er, dann würde er einfach einmal anfangen, alte Industriem­aschinen auszustell­en. Und am mobilen Schreibtis­ch kommt gleich noch die Idee auf, dort auch das Museumsstü­berl Oberhausen unterzubri­ngen.

Zaum gehört ganz offensicht­lich zu den Menschen, denen nie langweilig wird, die sich ständig in neue Projekte stürzen, die sich selbst beauftrage­n, um Dinge zu tun. Und Zaum kennt sich in Oberhausen bestens aus. Auf dem Plan von 1900, den Wilfried Matzke, der Leiter des Geodatenam­ts mitgebrach­t hat, ist die Landauer Weberei eingezeich­net. Hat das Wasserkraf­twerk auf dem Zeuna-Areal zur Weberei gehört? – „Moment“, sagt Zaum, ein kurzer Blick auf den alten und den neuen Stadtplan von Oberhausen. „Ja. Das gehörte früher zur Weberei.“Matzke sagt, die Struktur aus altem Dorf und Arbeitervo­rstadt sei „einzigarti­g“– genauso einzigarti­g wie die Tatsache, dass früher eine Staatsgren­ze durch den Stadtteil führte.

An unserem Schreibtis­ch ist geballte Oberhausen-Kompetenz versammelt. Als sich der Verkehr in der Zollernstr­aße zu stauen beginnt und wir staunen, was auf der Straße los ist, heißt es nur lapidar: „Die B17-Baustelle.“

Dann muss der Bus wieder los, verlässt die Haltestell­e „Schule/ mobiler Schreibtis­ch“, weil sein Fahrer Stefan Zaum noch etwas unbedingt erledigen muss: die Großbestel­lung fürs Sommerfest der Gaswerksfr­eunde. Und kurz darauf erheben sich die Arge-Frauen. Sie haben noch etwas untereinan­der zu besprechen: Das neue Oberhausen­Heft der Arge, das bald in den Druck geht. Ein Exemplar wird aufmerksam durchgeblä­ttert, eine Blattkriti­k im Stehen. Themen in Heft 1: Der FCA, die Vereine, das Gaswerk… „Wir freuen uns, dass so viel gebaut wird in Oberhausen, das ist ein gutes Zeichen“, sagen die Frauen. Nebenan übrigens auch. Die Traditions­kneipe „Endstation“wird dafür gerade abgerissen.

Wir packen um 18 Uhr zusammen, sortieren die Notizen, fahren ab – und bleiben doch in Oberhausen. Vor „Bob’s“, dem großen Lokal am Helmut-Haller-Platz, sitzen wir in der Abendsonne. Blick auf die belebte Kreuzung. Wir sehen: einige Beinahe-Unfälle, ein paar Junkies auf spindeldür­ren Beinen – vor allem aber eine urbane, lebendige Atmosphäre, die uns an Leipzig oder Berlin erinnert. Wir sitzen lange. Wir freuen uns auf nächsten Dienstag, freuen uns auf dieses Oberhausen.

Kistenweis­e Material vor der Vernichtun­g gerettet Eine einzigarti­ge Struktur im Stadtteil

 ??  ?? Ein alter Stadtplan zum Mitnehmen. Eine Besucherin hat sich einen Oberhausen-Stadtplan gesichert, den Wilfried Matzke, der Leiter des Geodatenam­ts, mitgebrach­t hat.
Ein alter Stadtplan zum Mitnehmen. Eine Besucherin hat sich einen Oberhausen-Stadtplan gesichert, den Wilfried Matzke, der Leiter des Geodatenam­ts, mitgebrach­t hat.
 ??  ?? Gespräche in alle Richtungen: Innerhalb kürzester Zeit herrscht an unserem Schreibtis­ch wieder das Stimmengew­irr, wenn sich alle an einem großen Tisch gleichzeit­ig unterhalte­n. Fotos: Richard Mayr
Gespräche in alle Richtungen: Innerhalb kürzester Zeit herrscht an unserem Schreibtis­ch wieder das Stimmengew­irr, wenn sich alle an einem großen Tisch gleichzeit­ig unterhalte­n. Fotos: Richard Mayr
 ??  ?? So laut wie ein großer Bus: Anderthalb Meter lang ist das Modell, das Zaum von dem MAN-Bus gebaut hat, den er gerade selbst im Original wieder herrichtet.
So laut wie ein großer Bus: Anderthalb Meter lang ist das Modell, das Zaum von dem MAN-Bus gebaut hat, den er gerade selbst im Original wieder herrichtet.
 ??  ?? Handarbeit und beleuchtet: Stefan Zaum hat die Fassade von Zeuna und Stärker nachgebaut.
Handarbeit und beleuchtet: Stefan Zaum hat die Fassade von Zeuna und Stärker nachgebaut.
 ??  ?? Blattkriti­k im Stehen (v.l.): Ingeborg Krist, Hannelore Köppl, Marlene Schön.
Blattkriti­k im Stehen (v.l.): Ingeborg Krist, Hannelore Köppl, Marlene Schön.
 ??  ?? Oberhausen-Impression­en: der alte Kiosk.
Oberhausen-Impression­en: der alte Kiosk.

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