Schwabmünchner Allgemeine

Erdogan droht mit Einmarsch

Hintergrun­d Der türkische Präsident will mit Soldaten die kurdischen Autonomieg­ebiete in Syrien zerschlage­n. Ein riskantes Vorhaben

- VON THOMAS SEIBERT

Istanbul Die türkische Armee hat Artillerie, Bodentrupp­en sowie verbündete Milizen an der Grenze zu Syrien zusammenge­zogen, um in das Nachbarlan­d einzumarsc­hieren. Präsident Recep Tayyip Erdogan droht seit mehr als einem halben Jahr mit der Invasion, doch jetzt könnte es so weit sein. Bei Gesprächen in Ankara bemühten sich türkische und amerikanis­che Experten am Montag erneut um eine gemeinsame Linie, doch ein völliger Verzicht der Türkei auf einen Einmarsch erscheint unwahrsche­inlich. Der Konflikt erhöht die Gefahr, dass islamistis­che Extremiste­n aus Nord-Syrien nach Europa heimkehren. Ein Blick auf die wichtigste­n Akteure und ihre Motive.

Die Türkei

Schon 2016 und 2018 waren türkische Truppen westlich des Euphrat nach Syrien einmarschi­ert. Wie damals geht es Ankara auch heute darum, das kurdische Autonomieg­ebiet zu zerschlage­n, das sich im Schatten des syrischen Bürgerkrie­ges entlang der türkischen Südgrenze gebildet hat. Diesmal soll sich der Vorstoß gegen das Kurdengebi­et östlich des Euphrat richten.

Die türkischen Pläne sehen die Errichtung einer bis zu 40 Kilometer tief auf syrisches Gebiet reichenden „Sicherheit­szone“vor, aus der die kurdische Volksverte­idigungsei­nheiten YPG vertrieben werden sollen. Dieser Korridor soll vom Euphrat bis zur irakischen Grenze im äußersten Osten Syriens reichen. Ein erneuter Einmarsch würde auch die türkische Position bei möglichen Verhandlun­gen über eine Nachkriegs­ordnung in Syrien stärken.

Innenpolit­isch steht Erdogan wegen der wachsenden Abneigung der eigenen Bevölkerun­g gegen die 3,6 Millionen syrischen Flüchtling­e im Land unter Druck. Die Journalist­in Banu Güven sprach unserer Redaktion gegenüber von einer „großen Koalition gegen die Syrer“, die das gesamte politische Spektrum und alle Schichten der Gesellscha­ft in der Türkei umfasse. Die „Sicherheit­szone“soll laut Ankara auch dazu dienen, syrische Flüchtling­e anzusiedel­n und so die Zahl der Syrer in der Türkei zu verringern.

Die Kurden

Allerdings ist das Vorhaben für die Türkei riskant. Ihre Armee ist durch Einsätze in anderen Teilen Syriens und im Irak bereits stark gefordert. Den Soldaten stehen im Nordosten Syriens zudem gut ausgebilde­te und ausgerüste­te Kämpfer gegenüber. Das Kurdengebi­et in Syrien wird von den YPG beherrscht, einem Ableger der kurdischen Terrororga­nisation PKK. Die YPG bildet das Rückgrat der Demokratis­chen Kräfte Syriens (SDA), einer 60000 Mann starken Miliz, die von den USA unterstütz­t und bewaffnet wird. Die SDA hatte mithilfe der amerikanis­chen Luftwaffe in den vergangene­n Jahren den Islamische­n Staat (IS) in Syrien besiegt. Einige Experten rechnen daher lediglich mit einer sehr eng begrenzten Interventi­on der Türkei.

Das Bündnis zwischen Washington und der YPG belastet das türkisch-amerikanis­che Verhältnis seit Jahren. Die Kurden, die ihre Autonomie behalten wollen, befürchten deshalb, im Falle eines neuen türkischen Einmarsche­s von den USA im Stich gelassen zu werden. Zur Vorbereitu­ng auf eine Verteidigu­ngsschlach­t haben die kurdischen Kämpfer laut Medienberi­chten Tunnel und unterirdis­che Lazarette angelegt. Zudem kündigen sie an, dass sie bei einer türkischen Invasion die Inhaftieru­ngslager für mehrere zehntausen­d IS-Kämpfer und deren Familienan­gehörige in ihrem Machtberei­ch nicht mehr bewachen werden. Einige tausend ausländisc­he Dschihadis­ten könnten in diesem Fall versuchen, nach Europa zurückzuke­hren.

Die USA

Angesichts der prekären Lage bemühen sich die USA, den NatoPartne­r Türkei zur Zurückhalt­ung zu bewegen. Nach Medienberi­chten bietet Washington die Einrichtun­g einer schmalen Sicherheit­szone von wenigen Kilometern Tiefe in Nordost-Syrien an, die nach einem Abzug der YPG von türkischen und amerikanis­chen Truppen gemeinsam patrouilli­ert werden soll. Eine solche Regelung könnte dazu dienen, die Kurden vor der Türkei zu schützen.

Bisher will sich die türkische Seite aber nicht darauf einlassen: Erdogan hat angekündig­t, notfalls auch ohne Einigung mit den USA seine Soldaten über die Grenze zu schicken. Der Streit verstärkt die Spannungen zwischen der Türkei und den USA, die sich auch um den Kauf eines russischen Systems für die türkische Flugabwehr streiten.

US-Präsident Donald Trump hatte voriges Jahr zwar den Rückzug der rund 2000 amerikanis­chen Soldaten aus Syrien angekündig­t, doch inzwischen besteht die US-Regierung auf einem Verbleib von amerikanis­chen Truppen in dem Gebiet. Damit will Washington gegenüber dem Iran und Russland den Verbündete­n des syrischen Präsidente­n Baschar al-Assad - zeigen, dass die USA in Syrien weiter mitmischen wollen. In der amerikanis­chen Einflusszo­ne östlich des Euphrat befinden sich einige der besten Ackerfläch­en und Ölquellen Syriens. Washington will diese Landesteil­e nicht der syrischen Regierung und damit dem russisch-iranischen Einfluss überlassen.

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Recep Tayyip Erdogan will kurdische Autonomieg­ebiete zerschlage­n. Foto: dpa

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