Schwabmünchner Allgemeine

Im Sprint über den Balkan

Ostwärts Bastian Sünkel ist jetzt wieder allein unterwegs und daran gewachsen. Mit flottem Tempo ist er in Istanbul angekommen

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Gilberto wird ungeduldig. 40 Minuten bleiben noch für eine Taxifahrt quer durch Belgrad, für den Kauf von vier Bahnticket­s und mindestens zwei Wasserflas­chen, einem Sprint zum Zug und dem Zusammensi­nken in den abgenutzte­n Sesseln ausrangier­ter Waggons mit deutschen Beschriftu­ngen wie „Liegewagen“und „Lautstärke“. Geschafft. Ich habe Gilberto während unserer Reisefreun­dschaft nie seine gute Laune verlieren sehen. An diesem Morgen steht er kurz davor, habe ich das Gefühl. Ein Rennen durch die Metropolen Zentral- und Südeuropas erreicht seinen Höhepunkt: Argentina und ich sind angespannt und verspäten uns eine halbe Stunde – nicht jede Etappe auf der Reise verläuft ohne Unstimmigk­eiten. Gilberto, der sich sonst für seine abendfülle­nden Monologe entschuldi­gt, ist überrasche­nd ruhig und seine Begleiteri­n Ruth aus Singapur ist etwas verwirrt, weil ich sie mit Jade anspreche und mich nach ihrer Zeit in Budapest erkundige. Ruth habe ich noch nie gesehen, stellt sich später heraus. Ich verwechsle sie lediglich mit einer anderen Freundin Gilbertos. Das geht mir alles zu schnell.

Dabei habe ich vor einem Monat noch über die „Philosophi­e des langsamen Reisens“geschriebe­n. Ich erfülle das Konzept lediglich in einem Punkt: Ich buche keinen Flug. Alles andere ist eine Tour de Force, die ich mir selbst ausgesucht habe. Meine Begleiteri­n Argentina will auf ihrer ersten Europareis­e in rund eineinhalb Monaten möglichst viele Orte kennenlern­en. Ich helfe ihr dabei. Zwischen Franken und der Türkei liegen acht Staaten und etliche Planungen in letzter Sekunde. Wer schnell sein will, muss zahlen. In der Regel mit Geld und Zeit.

Zwischen Schlafplat­z suchen und einen geeigneten Ausgangspu­nkt fürs Trampen finden, will man ja auch noch so intensiv wie möglich den Ort kennenlern­en, an dem man sich gerade aufhält. Das heißt in den meisten Fällen: Stadtführu­ng am Tag, Kneipentou­r in der Nacht. Drei Nächte Wien, drei Bratislava, eine Nacht Györ und so weiter... In Budapest bleiben wir ausnahmswe­ise fünf Nächte. Das liegt allerdings nicht an der Stadt. Der Zeckenbiss an Argentinas Oberschenk­el entpuppt sich als Auslöser einer LymeBorrel­iose. Zwei Krankenhäu­ser und eine Apotheke später ist klar, dass sich unsere Reise grundlegen­d ändern wird. Drei Wochen Antibiotik­um bedeuten Alkoholver­zicht und Sonnenabst­inenz. Das Trampen ist vorbei, stattdesse­n buchen wir brav Bus und Bahn.

Setzt man auf Beschleuni­gung, Stempelsam­meln im Reisepass, Städte im Besichtigu­ngswettlau­f, erlebt man bestenfall­s das für die Backpacker­szene entwickelt­e Abbild eines freien Reisestils, dessen Ziel Länder und Kulturen kennenzule­rnen sich im Unterhaltu­ngs

zwang verliert. Noch eine Attraktion, noch ein Selfie. Am Ende landet man immer an ähnlichen Orten. Die Hostels teilen sich auf in schäbige Kasernenbe­ttklitsche­n für den kleinen Geldbeutel, in ruhige LoungeHost­els mit Yoga und in Partyhoste­ls mit Bar, Pubcrawls und der Pflicht, mit einem Lächeln brav die Fragen „Woher?“und „Wohin?“zu beantworte­n und spätestens ab Mitternach­t Körperscha­u zu betreiben. Die einzigen Einheimisc­hen lernt man da bei der Stadtführu­ng oder an Verkaufsst­änden kennen.

Zwischenze­itlich komme ich mir wie einer der Pauschalto­uristen vor, die sich in Massen über die Prager Karlsbrück­e schieben oder 27 Euro für die Tour auf der Stadtmauer von Dubrovnik hinblätter­n. Attraktion­en jagen Attraktion­en, einige Orte versinken im „Overtouris­m“. „Der Tourist zerstört das, was er sucht, indem er es findet.“Der Satz hat sich schon vor dem Start in meinem Gedächtnis eingebrann­t. Für die Reisenden im Hostel ist Tourist ein Schimpfwor­t, der Unterschie­d bei genauer Betrachtun­g allerdings gar nicht so groß. Reisende buchen eher ein Hostel statt ein Hotel und behaupten, individuel­ler zu sein. Der größte Unterschie­d ist meist aber nur die Reisedauer und das -tempo.

Verlasse ich ein Land nach nur zwei Nächten, verfolgt mich das Gefühl, ein innerliche­s Lexikon des Halbwissen­s anzulegen. Im Kopf sammelt sich ein Informatio­nstohuwabo­hu aus den Stadtführu­ngen an. In Bratislava hat ein findiger Fahrer die Farbe Gelb für Taxis eingeführt. Die größte Synagoge musste einer Brücke in Zeiten des Ostblock-Sozialismu­s weichen. Nächste Stadt: Hitchcock sei in den Sechzigern in Belgrad gewesen, behauptet Stadtführe­rin Jelena. Er habe sich von einer Sage inspiriere­n lassen: 37 Hochverrät­er seien in einen Schacht verbannt worden. Ohne Essen, ohne Wasser. Nach einigen Tagen hätten die Stadtobere­n Messer in den Untergrund geschmisse­n. Wer überleben wollte, habe sich von seinen Kontrahent­en ernähren müssen. Ich überlege noch einige Tage, ob ich zwischen „Psycho“und „Frenzy“einen Zusammenha­ng mit moralisch fraglichen Zwangshand­lungen herstellen kann – und schon geht die Reise weiter. Montenegro: Godinje war angeblich der erste Ort im Zweiten Weltkrieg, der sich von der faschistis­chen Herrschaft der Italiener 1941 lossagen konnte. Griechenla­nd Thessaloni­ki: Das Inferno 1917, bei dem 65 Prozent der Stadt niederbran­nten, hat wahrschein­lich eine Straßenhän­dlerin ausgelöst, die ihr Essen anbrennen ließ. Am Ende weiß ich nicht mehr, was Realität und Fiktion ist und frage mich, ob das überhaupt eine Rolle spielt. Die Reise zehrt von ihren Erzählunge­n, wie die 37 im Graben von ihren Mitstreite­rn. Eine unglaublic­he Geschichte frisst die nächste. Ob einer der Verräter überlebt hat? Jelena überlegt und sagt: Sie weiß nicht, ob die Sage ein Ende hat.

Das Reisen entschleun­igt sich, als ich im Zug nach Montenegro sitze. Mit Argentina und Gilberto verbindet mich die Geschichte meiner Reise. Gilberto ist mir 10 000 Kilometer von unserem letzten Treffpunkt entfernt wieder begegnet. Unsere Wege haben sich vor einem knappen Jahr in San Cristobal im Süden Mexikos gekreuzt. In Bratislava stehen wir uns zufällig zum zweiten Mal gegenüber. Wir stranden beide im selben Hostel. Er hat zuvor seinen Job in China gekündigt. Ich setze nach dem Bandscheib­enproblem meine Tour fort. Mein Gefühl aus Mexiko hat mich nicht getäuscht: Wir sind beide auf der Suche nach etwas in der Welt, von dem wir beide nicht genau wissen, was. Nach Montenegro trennen sich unsere Wege wieder. Gilberto hat sich einen „Work & Travel“-Job auf einem Hof im Schwarzwal­d besorgt. Für mich geht die Reise weiter nach China. Verkehrte Welt.

Argentina hat sich in Istanbul verabschie­det. Sie ist zurück in Mexiko, ich reise allein weiter durch die Türkei in den Iran. Nach eineinhalb Monaten fällt der Abschied schwer – auch wenn ich weiß, dass die Soloreise vieles vereinfach­t: keine Diskussion­en über die nächste Mahlzeit und Etappe. Ich bestimme wieder das Tempo der Reise. Der

Ein Abschied und weiter geht’s allein

Dichter und Einsiedler Henry David Thoreau, der jeden Tag angeblich vier Stunden allein umhergewan­dert sein soll, schreibt über einen inneren Trommler, der jedem Reisenden seinen Takt schlägt. Passe man sich einem fremden Rhythmus an, führe das auf Dauer zu Unzufriede­nheit. Mich hat vor einem Jahr eine Seniorin in einem Hostel in Guatemala gefragt, warum ich allein reise. Ich hab’ ihr geantworte­t, dass es mir leichter falle, mein eigenes Tempo zu bestimmen. „Wer nie lernt, mit anderen zu reisen, wird immer ein Baby bleiben“, hat mir die Britin entgegnet.

Bin ich ein reisendes Baby? Argentina lacht, als ich ihr die Geschichte erzähle und sagt, ich verhielte mich zumindest öfters so. Zu viele Menschen auf der Karlsbrück­e? Deswegen verliert die Brücke nicht ihre Ästhetik. Das Reisetempo ist zu schnell? Kein Grund für meinen inneren Trommler, den Kriegsmars­ch zu schlagen. Argentina hat mir den Spiegel vorgehalte­n. Ich werde sie vermissen. Nun muss ich lernen, mit der Reise zu wachsen.

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Die geplante Route von Bastian Sünkel führt weiter von der Türkei entlang der Schwarzmee­rküste Richtung Iran. Wer mehr lesen will, findet den Reiseblog von Bastian Sünkel unter www.globalmonk­ey.net

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Reise-Begegnunge­n – unten auch zeitweise Begleiter: Argentina und Gilberto.
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Fotos: Sünkel Stationen: Budapest (oben), das Dörfchen Godinje (links) und Meteora.
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